Bildung in einstürzenden Neubauten – ein Gespräch mit Hilbert Meyer


Es dürfte kaum einen Lehramtsstudierenden und kaum eine Referendarin/einen Referendar in Deutschland geben, der bzw. die nicht schon mit Hilbert Meyer in Kontakt gekommen ist. Sein 10er-Katalog zur Frage „Was ist guter Unterricht?“ ist weltweit verbreitet. Die ‚kleine Weltbühne‘ traf Hilbert Meyer zu einem im pädagogischen Du geführten Gespräch zu aktuellen Herausforderungen in der Bildung.  

Als du im Sommer 2018 auf Einladung der KREIDESTAUB-Initiative einen Vortrag an der Uni gehalten hast, war der Hörsaal bis auf den letzten Platz besetzt. Überrascht dich deine nachhaltige Bekanntheit fast zehn Jahre nach deiner Emeritierung?

Ja, es hat mich überrascht. Ich hatte den Verantwortlichen von KREIDESTAUB sogar vorher empfohlen, einen kleineren Raum zu wählen. Ich hatte angenommen, dass ich heute im Alltagsbetrieb der Uni keine Rolle mehr spiele. Aber es gibt offenbar einige Lehrende, auch geradeaus dem Mittelbau, die immer wieder auf Bücher von mir verweisen.

Das Interesse an deiner Person dürfte auch mit der anhaltenden Popularität deiner Bücher im Studium und Referendariat zu tun haben?

Das mag sein! Früher waren mir die hohen Auflagenzahlen mir manchmal ein wenig peinlich, aber heute entschuldige ich mich nicht mehr. Genau deshalb habe ich die Bücher so adressatenorientiert geschrieben. Die Bekanntheit einiger meiner Bücher hängt ja unmittelbar mit der Gründungsgeschichte der Uni Oldenburg zusammen. Ich war damals beim Oldenburger Modellversuch zur Einphasigen Lehrerbildung von Beginn an aktiv dabei. Wir waren gezwungen die Studierenden, die dann ja auch das „Referendariat“ schon im Studium machten, so vorzubereiten, dass sie, insbesondere an Gymnasien, von den sehr strengen Prüfern nicht sofort k.o. geschlagen wurden. Die Prüfer waren in der Regel Gegner der Uni Oldenburg und ließen das auch deutlich erkennen. Das hat Druck ausgeübt auf uns Didaktiker. Wir mussten die Studierenden wirklich fit machen, dass sie gut durch die unterrichtspraktischen Prüfungen kamen.  Das hat die Gestaltung meiner Bücher stark geprägt, zum Beispiel den „Leitfaden Unterrichtsvorbereitung“, der mittlerweile in über 20 Auflagen erschienen ist. Dabei hatte der damalige Kultusminister, Werner Remmers, einen Erlass an den damaligen Rektor der Uni Oldenburg geschickt, in dem er ihn aufforderte dafür zu sorgen, dass mein Leitfaden nicht für die Lehrerbildung benutzt wird. Rektor Krüger hat den Minister dann deutlich darauf hingewiesen, dass immer noch die im Grundgesetz garantierte Freiheit von Forschung und Lehre gilt.

Die Bücher sind von einem auffällig anwendungsorientierten Stil geprägt.

Ja, gerade didaktische Lehrwerke sollten auch Handlungswissen für die Bewältigung des Unterrichtsalltags vermitteln. Deshalb habe ich mich nie gescheut, in meinen Büchern auch ganz konkrete Vorschläge zu machen. Ich kenne einige Kollegen, die das kritisieren und sagen: „Rezepte zu geben ist unwissenschaftlich.“ Das halte ich aber für falsch. Ich habe gerade einen chinesischen Doktoranden, der promoviert, weil er so frustriert darüber war, dass seine Ausbilder ihm in Shanghai an der dortigen Grundschule gesagt haben: „Vergiss was du an der Uni gelernt hast, das zählt sowieso nicht“. Und jetzt promoviert er zu dem Thema, was man machen kann, damit das Theoriewissen besser an Berufseinsteiger und Profis vermittelt wird.

Wir haben alle hohe Ansprüche an die Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern, das ist ein sehr anspruchsvoller Job. Es sind sich auch alle Unterrichtsforscher weltweit darin einig, dass das Reflektieren der eigenen Erfahrungen im Lichte von Theoriewissen entscheidend für die Lehrerwerdung ist. Erfahrungen zu machen reicht alleine nicht aus, man muss auch klug darüber nachdenken. Erst dann tritt reflexive Distanz ein, die mir hilft, auch mit unvorhergesehenen und schwierigen Situationen besser klar zu kommen. Davon wimmelt es im Lehrerberuf, daran sind sich ja auch alle einig: Es ist einer der anspruchsvollsten akademischen Jobs überhaupt. Das belegen empirische Vergleichsstudien, z.B. von dem Harvard-Professor Lee Shulman. Man hat es nicht wie der Arzt mit einem einzigen Patienten zu tun, sondern mit 20 oder 30 Schülerinnen und man muss auch noch froh darüber sein, dass die so eine Dynamik in den Prozess reinbringen.

Du hast deine Lehrtätigkeit an der Uni Oldenburg einmal  als „befriedigende Arbeit in Einstürzenden Neubauten“ charakterisiert. Trifft das angesichts immer neuer Reformen nicht auch auf die Arbeit aller Lehrer zu?

Ja klar! Ich bin 1964 als Lehrer in den Schuldienst getreten, das ist 54 Jahre her. Ich habe einiges an Veränderungen in Schulen mitgemacht. Ich trat als sogenannter Junglehrer ein in die evangelische Volksschule; ein Referendariat gab es damals für Volksschullehrer noch nicht. Als ich nach drei Jahren die Schule wieder verließ (um an der Freien Universität ein Promotionsstudium zu starten), war das ‚evangelische‘ gestrichen und es war eine Mittelpunktschule geworden, das war damals eine Reformschule. Ab 1968 gab es die Reform der Gymnasialen Oberstufe. Dann kamen die zwei Kurzhalbjahre, danach in Niedersachsen die Orientierungsstufen. In den 70er Jahren kamen langsam die Gesamtschulen, in Oldenburg sind sie heute relativ stark, in anderen Gegenden weniger. Vor 15 Jahren wurde G9 zu G8 und dann wieder zu G9.  Einiges wurde also beibehalten, vieles wurde wieder aufgegeben.

Es hat also immer erhebliche Bewegung in der Schullandschaft gegeben. Und deshalb sage ich, dass man sich darauf schon im Studium einstellen sollte. Keiner darf damit rechnen, genau in der Schulform pensioniert zu werden, in der er sein Referendariat begonnen hat. Aber je mehr Umbrüche es gibt,  umso wichtiger ist es, dass die Beziehungsstruktur von Professoren zu Studierenden und entsprechend von Lehrern zu Schülern gepflegt wird, weil wir auch aus der empirischen Forschung genau wissen: Nur wenn die Beziehung stimmt, kann das gemacht werden, was ich ein Arbeitsbündnis nenne: dass sich Lehrer und Schüler darüber verständigen, welche Rechte und Pflichten sie haben und dass sie akzeptieren, dass man sich gegenseitig helfen will..

Und deshalb sage ich den Studierenden von heute: Seid nicht frustriert, wenn die ideale Schule, von der ihr träumt, zu euren Lebzeiten nicht realisiert wird. Aber träumt diese Träume weiter. Sie sind als Richtschnur für den Aufbau einer schülerorientierten Haltung unverzichtbar. Und die braucht man, um auch unter widrigen Rahmenbedingungen eine persönlich befriedigende Arbeit leisten zu können.

Gilt das auch für die Universitäten?

Ja! Das ist an Universitäten nicht anders und das ist auch der Grund, warum ich bei meiner Emeritierungsfeier von den „Einstürzenden Neubauten“ an der Uni Oldenburg gesprochen habe. Kaum hatten wir die Einphasige Lehrerbildung aufgebaut, wurde sie durch Beschluss der Landesregierung wieder eingestellt. Kaum hatten wir das herkömmliche Lehramtsstudium mit dem Staatsexamen aufgebaut, kam die Umstellung auf Bachelor und Master.

Der Beruf des Lehrers war schon immer anspruchsvoll. Aber aktuell gibt es mindestens drei Umbrüche gleichzeitig: die Inklusion, die Integration angesichts von größerer Migration und die digitale Wende. Dazu kommt noch die Herausforderung durch wachsenden Populismus, dem man ja auch im Unterricht begegnet. Wie kann man eine Strategie entwickeln, sich auf all diese Herausforderungen gleichzeitig vorzubereiten?

Ob man das alles gleichzeitig schafft, ist die Frage. Aber du hast auf jeden Fall die wichtigsten Baustellen benannt, die in der Schule nicht von jedem einzelnen, aber doch von allen gemeinsam bearbeitet werden müssen. Inklusiven Unterricht müssen wir machen, weil das die Gesetzeslage ist. Aber die Frage lautet jetzt, ob der Wagen vor die Wand fährt oder nicht. Ich sage: nein, das tut er nicht. Aber nicht, weil die Rahmenbedingungen für inklusiven Unterricht vom Land Niedersachsen angemessen hergestellt wurden, sondern weil so viele engagierte Lehrerinnen und Lehrer da sind, die sich darum kümmern. Dasselbe sage ich zur Betreuung und Integration von Geflüchteten, die ja alle schulpflichtig sind. Da ist sehr viel passiert in Niedersachsen und gerade auch in der Stadt Oldenburg. Das ist wirklich beachtlich, was einige geleistet haben. Selbst Pensionäre sind in großen Mengen weiterhin sehr aktiv und betreuen einzelne Flüchtlingskinder, die ja oft genug auch traumatisiert sind. Da habe ich also das gleiche Urteil: Obwohl die Rahmenbedingungen ungenügend sind fährt die schulische Integration der Flüchtlinge nicht vor die Wand.

Nun zu deinem dritten Punt: Digitalisierung. Das Thema ist wichtig, ich halte aber die von einigen entwickelten Hochrechnungen und Krisenszenarien für masßlos überzogen, Jörg Draeger, der Chef der Bertelsmann-Stiftung, hat ein dickes Buch geschrieben: „Die digitale Bildungsrevolution“, und darin behauptet er, dass über kurz oder lang die herkömmliche Schule zerbröseln wird, dass wir in Zukunft digital kostenlos lernen werden und dass dadurch endlich die Demokratisierung der Bildung gelingt, weil jeder weltweit kostenlos an hochqualifizierte Lehrveranstaltungen im Internet herankommen kann. Das ist Drägers Hoffnung, aber ich halte sie für naiv. Ich gehe ebenfalls davon aus, dass die Digitalisierung und Globalisierung viele Verwerfungen und viele Zerbröselungen von traditionellen Normen und Werten produzieren wird, aber ziehe die umgekehrten Konsequenzen: Die Schule wird wichtiger  als heute, und nicht etwa aufgelöst. Warum? Die Schule ist stark im gemeinsamen Lernen, sie ist eher schwächlich im individualisierten Lernen, (das durch Digitalisierung unterstützt werden kann). Aber die von vielen gepriesene Individualisierung des Lernens ist nicht einmal die halbe Miete – der gemeinsame Unterricht ist für mich das wichtigste. Dort kann das stattfinden, was ich in meinem ZEHNERKATALOG zum guten Unterricht als ‚sinnstiftendes Kommunizieren‘ bezeichnet habe: Man tauscht sich aus, erprobt eigene Positionen und man bildet sich, indem man seinen eigenen Horizont weiterentwickelt, etwa in religiösen Fragen, in der Berufsorientierung, in politischen Debatten.

Ich hatte als vierte Herausforderung den wachsenden Rechtspopulismus in Europa und auch in Deutschland genannt.

Das ist in der Tat eine immer größer werdende Herausforderung. Aber es gibt Mut machende Signale, dass sich die Befürworter einer offenen und demokratischen Gesellschaft deutlicher zu Wort melden als in der Vergangenheit. Der niedersächsische Kultusminister Tonne hat im Dezember 2018, als die AFD das Portal zur Denunzierung von Lehrern eingerichtet hat, einen wirklich guten Brief an alle Lehrer geschickt, in dem er sagt: Politische Mäßigung, die Beamte nach Gesetz leisten müssen, heißt nicht, dass man nicht klare Kante beziehen darf gegen autoritäre oder rechtsreaktionäre Positionen. In vielen meiner Vorträge höre ich auf mit dem Satz: Wir müssen den Begriff Heimat zurückerobern, so wie das linke Theoretiker wie Ernst Bloch schon vor 50 Jahren vorgeschlagen haben. Er beendet seinen riesigen Wälzer „Das Prinzip Hoffnung“ mit dem Satz „Heimat kommt erst auf uns zu. Sie entsteht, wenn wir in gemeinsamer Arbeit dafür sorgen, dass es menschenwürdige Verhältnisse gibt.“ Das würde ich gerne der AfD ins Stammbuch schreiben. Ich fände es schön, wenn einige Lehrer im AFD-Portal angezeigt werden würden und wenn man mit diesen Lehrern dann eine öffentliche Tagung machte und Fragen wie die folgende bearbeitet: Wie geht ihr mit rechtsradikalem Gedankengut um? Wie sichert ihr den erforderlichen Respekt gegenüber jedem Lernenden, wenn dieser Lernende selbst respektlos ist? Lehrer, die im Unterricht klar Position beziehen im Unterricht, sind in der Regel starke Lehrerpersönlichkeiten, die können solche AfD-Denunziationen locker überstehen.

Du hast dich für ein Hauptfach Informatik in der Sekundarstufe I ausgesprochen. Ist das der Weg mit der Herausforderung Digitalisierung umzugehen?

Eine kleine Anmerkung vorweg: Ich bin kein Digital Native, ich bin auch kein Digital Immigrant, sondern eher Digital Refugee. Ich stehe aber jeden Tag vor dem Computer und benutze das Internet für zwei bis drei Stunden täglich. Und ich profitiere davon. Die Wissenschaftler sind ja insgesamt die großen Profiteure der Digitalisierung. Also beurteile ich Digitalisierung und speziell die Arbeit mit digitalen Unterrichtsmedien aus einer eher traditionellen bildungstheoretischen Perspektive.

Was die Einführung neuer Schulfächer anbelangt, habe ich n in fünfzig Jahren so meine Erfahrungen gemacht: In den 70ern des letzten Jahrhunderts gab es die heftig geführte Diskussion, ein Fach ‚Arbeitslehre‘ einzuführen. An Gesamtschulen ist das auch passiert.. Aber die Gymnasien haben sich erfolgreich dagegen gewehrt, weil sie gesagt haben „das passt nicht in unser wissenschaftspropädeutisches Curriculum“. Ähnlich erfolglos waren die Versuche, die Verkehrzserziehung oder die Pädagogik als selbstständige Schulfächer der Sekundarstufe I einzuführen. Damals habe ich gelernt: Die Etablierung eines neuen Faches dauert mindestens eine Generation.

Die Diskussion über Informatik verläuft ähnlich langwierig. Es muss ja nicht gleich ein Hauptfach sein, aber es sollte zumindest ein Pflichtfach mit einer entsprechenden Stunden-Kontingentierung  sein. Das ist mittlerweile auch bundesweitKonsens. Umstritten ist die Frage in der Primarstufe. Viele fordern ein selbstständiges Fach. Ich teile diese Einsätzung nicht. Ich meine, die Informatische Bildung gehört in der Grundschule schwerpunktmäßig in den Sachunterricht. Zusätzlich muss sie in allen Fächern eine Rolle spielen, in denen digitale Medien eingesetzt werden, und das werden in Zukunft fast alle Fächer sein. Überall muss den Schülern geholfen werden, reflexive Distanz zu ihrer Mediennutzung herzustellen. Die Interessen der Wirtschaft sind natürlich auch da, aber Arbeitgebervertreter haben in der Regel nur ein Interesse daran, die sogenannten digitalen Schlüsselkompetenzen zu vermitteln, also Absolventen zu bekommen, die die Digitalisierung der Arbeitsplätze klaglos bewältigen. Das ist mir aber zu wenig. Da verweise ich auf die Oldenburger Informatikdidaktikerin Ira Diethelm, die eine dezidierte Bildungstheoretikerin ist. Sie fragt sich, was es heißt, mit digitalen Medien mündig umzugehen und zu verstehen, was da passiert – technisch, ökonomisch und in anderen Hinsichten.

Ich finde dieses klare Bekenntnis zur Bildung sehr gut, sage aber, die Fachdidaktiker müssten das Ziel, Medienmündigkeit zu fördern, in einen noch breiteren Rahmen einbetten. Digitalisierung kann man nur verstehen als einen Teil der Globalisierung der Welt. Nicht nur technisch, sondern auch ökonomisch. Da bin ich kein Fachmann, und ich will, wenn ich das kritisiere, auch nicht als ein Trump Anhänger erscheinen, der ja ein lautstarker, allerdings ziemlich widersprüchlicher Globalisierungsgegner ist.

Und täglich darüber twittert.

Ja, inkonsequent ist er sowieso. Aber mir persönlich fehlt der Sachverstand, um die Frage nach dem Verhältnis von Digitalisierung und Globalisierung differenziert beurteilen zu können. Ich sehe, dass wir in Europa und speziell auch in Deutschland sehr stark davon profitieren, während man als Textilarbeiter in Bangladesch zwar Arbeit hat, aber unter unwürdigen Umständen. Deswegen muss einiges passieren, auch wenn die Schulen so gut wie keinen Einfluss auf die Globalisierungsprozesse haben. Aber wir können in der Schule versuchen, darüber aufzuklären und ein Stück weit Solidarität zu zeigen. Meine Frau hat hier das ‚Ökumenische Zentrum‘ mitgegründet, das auch Bildungsarbeit für Schulen anbietet und sich für Fair Trade einsetzt – hoch erfolgreich übrigens. Der von diesem Verein geführte Ökumenische Weltladen findet sich in der Kleinen Kirchenstraße neben der Lamberti-Kirche. Dort arbeitet auch eine Bildungsreferentin. Der Laden hat einen Jahresumsatz von 300.000 Euro. Der Verein schöpftkeinen Gewinn ab, sondern investiert ihn in Umsatzsteigerungen, weil genau das den Kaffee- und Kakaoproduzenten in der dritten Welt hilft. Man kann also etwas ausrichten, wenn auch nur in ganz kleinen Schritten.

Bei der Debatte um die Einführung des Digitalpakts frage ich mich jenseits der Digitalisierung: kann man den Föderalismus in der Bildungspolitik noch verteidigen`?

Ich verteidige ihn. Frankreich hat seit der französischen Revolution, eigentlich auch schon seit Ludwig IV. im siebzehnten Jahrhundert eine sehr zentralistische Tradition – und das französische Bildungssystem steht keineswegs besser da als unseres. Die haben das ganze Problem, dass die Peripherie unterversorgt ist. Deshalb sage ich: nein, ich kann mit Kulturföderalismus gut leben. An dem Digitalpakt stört mich etwas ganz anderes, und das ganz massiv. Ich hatte zunächst angenommen, dass der auch für Lehrerfortbildungen und die Etablierung in den Schulen gedacht ist. Das ist aber nicht so. 4 ½ Milliarden Euro ausschließlich für Hardware. Ich habe in einem amerikanischen Aufsatz gelesen, der von einem bekannten Schulentwickler stammte, dass 70% für Lehrerfortbildungen ausgegeben werden müssten und nur 30% für die Hardware. Das sehe ich für Deutschland genauso. Ich fürchte schlimmstes, wenn sich die Koalitionäre sicherlich noch einigen werden und wenn dann das Geld so schnell wie möglich ausgeben wird. Ohne umfassende Aus- und Fortbildung der Lehrer ist der Digitalpakt nichts anderes als eine Subventionsmaßnahme für IBM, Apple & CO und eine Maschinerie zur Veruntreuung von Steuergeldern.

Du hast letztes Jahr einen Vortrag auf der Informatiktagung ‚INFOS‘ gehalten, wie wird die Situation dort eingeschätzt?

Die führenden Informatikdidaktiker sind sich dieser Probleme sehr wohl bewusst. Beat Döbeli Honegger, ein junger Didaktiker aus der Schweiz, weist auf alle Ungereimtheiten hin: Handys werden verboten,  aber Laptops sollen die Schüler mitbringen, um die Kosten für den Schulträger zu sparen. Das finde ich inkonsequent. Die digitalen Medien bestimmen den Alltag – als Smartphones in den Hosentaschen der Schüler, aber auch als Erfahrungsräume im Kopf. Vor 20 Jahren hat Hartmut von Hentig ein Buch mit dem Titel „Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit“ geschrieben und gefordert, alle digitalen Medien aus der Schule zu verbannen. Aber die Wirklichkeit hat den Autor überholt. Das war mir eine Lehre:  Man kann sich die Wirklichkeit der Welt nicht in pädagogischer Absicht zurechtstutzen – sie ist so wie sie ist. Also muss Schule lernen, besser als bisher mit den digitalen Medien umzugehen.

Aber im Unterrichtsalltag gibt es doch erhebliche Probleme im Umgang mit den digitalen Medien. Wir wussten damals zum Beispiel auch sehr schnell, wie man den TI-83 Taschenrechner für allen möglichen Blödsinn nutzen konnte.

Genau deshalb ist eine adressatengerechte Lehrerfortbildung so wichtig! Ein fitter Lehrer kann damit umgehen. Er wird die oft sehr hohe Medienkompetenz der Schüler nutzen. Das zeigt: Auf die Haltung der Lehrpersonen kommt es an, nicht auf dieses oder jenes Detailwissen. Ich habe in dem eben von dir zitierten Vortrag sieben Haltungsprofile für den Umgang mit digitalen Medien formuliert: den gewissenhaften Neuling, den gutmütigen Medienmuffel, den Nerd und andere mehr. Wer die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler klug nutzt, den nenne ich die ‚schülerorientierte Regisseurin‘: Sie weiß, dass ihre Schüler fitter als sie selbst sind, aber sie zwingt sie, den eigenen Umgang mit den Medien immer wieder neu zu durchdenken: Was passiert da eigentlich, wenn ihr damit im Unterricht arbeitet? Und was könnt Ihr im Unterricht für euren privaten Konsum lernen? Das nennt man auch „Meta-Unterricht“; und dafür hat John Hattie sehr hohe Effektstärken nachgewiesen.

Du hast in einem Nachwort zu ihrem ‚Leitfaden Unterrichtsvorbereitung‘ ein Plädoyer für eine „Politisierung der Didaktik“ und der Demokratisierung von Unterricht gehalten. Ähnliche Konzepte gibt es also schon eine lange Zeit. Muss man angesichts einer stärker werdenden ideologischen und antidemokratischen Einstellung ein Scheitern dieser Konzepte attestieren?

Die Frage ist, was da gescheitert ist. Die Konzepte können weiterhin vernünftig sein, sie sind nur nicht genutzt worden. Über die langen Jahre, in denen ich an der Uni Oldenburg gearbeitet habe, also seit 1975, habe ich gesehen, dass es einen Rückzug aus einem sehr öffentlichkeitswirksamen, politisierten und gut organisierten Handeln der Studierenden gegeben hat. Das haben viele andere auch festgestellt, das sieht man auch an der peinlich niedrigen Wahlbeteiligung bei den AStA-Wahlen.Diese Veränderungen des Studierendenverhaltens bezeichnen einige Experten als Entpolitisierung. Ich würde das Wort hier nicht benutzen. Es ist eine Verschiebung der Art und Weise, wie man sich engagiert. Denn an anderen Stellen, zum Beispiel bei der Flüchtlingsbetreuung, sind diese angeblich unpolitischen Studierenden schnell wieder dabei gewesen. Dennoch hat sich einiges verschoben, etwa die Bereitschaft, sich in fest etablierten Organisationsstrukturen einzubringen. Diese Bereitschaft ist ohne Frage gesunken. Es betrifft auch die Lehrergewerkschaften. Die GEW hatte früher größere und stärkere Mitgliederzahlen, als dies momentan der Fall ist. Mein Interesse in dem „Leitfaden“ war, den Studierenden und Referendaren zu sagen: Richtet euch darauf ein, dass ihr einen öffentlichen Beruf ergreift. Akzeptiert, dass es zulässig ist, dass ihr öffentlich kritisiert werdet. Diese Feststellung, dass der Lehrerberuf eine politische Dimension hat, ist auch überhaupt nicht revolutionär, das steht in der KMK-Vereinbarungen zu den Bildungsstandards für das Lehramtsstudium fast wörtlich so drin.

In dieser Frage haben wir einen demokratischen Konsens unserer Gesellschaft. Darüber bin ich sehr froh. Ich bin öfter in China, da fehlt ein vergleichbares Engagement.Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass  die Lehrer dort eher eine schwache Stellung in der Schulhierarchie haben. Die Schulleitungen sind viel stärker als bei uns. Und die Schulaufsicht ist nochmals stärker. Deshalb wird Schule viel stärker Top-down weiterentwickeltals Bottom-up. Auch dort gibt es diese und jene Bottom-up-Initiativ, die begrüßt wird, aber sofort wieder eingefangen und in staatliche Kampagnen eingebunden wird, die von der Kommunistischen Partei kontrolliert werden. Deutsche Lehrerinnen und Lehrer sollten sich klar machen: Ich habe einen öffentlichen Beruf, und wenn ich glaubwürdig Demokratieerziehung an den Schulen machen möchte, dann muss ich mich als Lehrperson auch außerhalb des Schulgebäudes demokratisch engagieren. Deshalb finde ich es ganz prima, wenn Lehrer in Stadtparlamenten sind, sich in Umweltinitiativen engagieren oder im Netzwerk „Schule ohne Rassismus“ mitmachen. Da gibt es sehr viel Engagement, und da steht die Lehrerschaft in Deutschland gar nicht schlecht da.

Meine Frage, ob die Demokratieerziehung gescheitert ist, hast du noch nicht beantwortet!

Da hast du Recht. Aber eine Antwort ist sehr schwierig, weil es viel zu wenig empirische Forschungsergebnisse zu den Effekten der schulischen  Demokratieerziehung gibt. (Bei John Hattie findet man kein einziges Wort zu dieser Frage!) Der Niedergang der Volksparteien und der Aufstieg der AfD darf aber sicherlich nicht linear einer gescheiterten schulischen Demokratieerziehung angelastet werden. Die Schüler haben sich verändert. Und eine kleine Minderheit hat immer weniger Skrupel, sich auch im Unterricht offen rechtsradikal zu äußern. Davon wird man sie nicht einfach mit einer moralischen Belehrung abbringen. Man kann nur hoffen, dass das im Klassenzimmer eingeübte demokratische Aushandeln von Konflikten und die Suche nach Kompromissen nachwirken.

Zur Eröffnung des aktuellen akademischen Jahres wurde Prof Hans Werner Sinn an die Uni eingeladen. Du hast dich an dem Protestbrief dagegen beteiligt. Welche Gründe haben dich dazu bewegt?

Ich habe mich beteiligt, weil ich der Meinung bin, dass Carl von Ossietzky einen anderen Redner verdient hätte. Ich bin kein Ökonom. Aber ich habe über 30 Jahre lang Herrn Sinn immer wieder in den Medien als strikten Vertreter von Arbeitgeberinteressen erlebt. Er  ist kein Rechtsaußen. Aber solch einen Vortrag sollte jemand halten, der im Geiste Carl von Ossietzkys argumentiert. Man hätte besser den europaweit bekannten Oldenburger Post-Wachstums-Ökonomen Niko Paech einladen können.

In deinem Buch „Didaktische Modelle“ stellst du eine Reihe von konkurrierenden didaktischen Konzepten vor. Aber in der aktuellen akademischen Diskussion spielen sie kaum mehr eine Rolle. Die empirische Unterrichtsforschung scheint den Streit um das richtige Modell gewonnen zu haben. PISA und John Hattie dominieren die Debatte und die schulpolitische Wirklichkeit.

Ich würde gerne etwas zurechtrücken: Die empirische Unterrichts- oder Bildungsforschung stellt nicht den Anspruch, ein didaktisches Modell zur Strukturierung von Unterricht zu liefern, sondern sie will schlicht empirisch untersuchen, wie Unterricht funktioniert. Richtig ist: Die empirischen Bildungsforscher  sind die großen Gewinner, was die Besetzung von Professuren angeht. Oldenburg ist da eine löbliche Ausnahme – eine der wenigen Unis, die immer noch eine Professur für allgemeine Didaktik ausschreibt. In den meisten anderen Unis sind die Lehrstühle umgewandelt in empirische Bildungsforschung.

Ich habe überhaupt nichts gegen empirische Bildungsforschung, aber wir brauchen auch das theoretische, normativ orientierte Nachdenken: Wie stellen wir uns einen Menschen vor, der gebildet ist? Diese Frage können die Empiriker nicht beantworten. Digitalisierung ist dafür ein gutes Beispiel. Die entscheidenden Fragen – wie fördere ich Medienmündigkeit? wie gestalte ich einen emanzipierten Umgang mit digitalen Medien? – diese Fragen erfordern immer eine normative Orientierung. Und die kommt nicht aus der Empirie. Die Antworten auf diese Fragen liefern die oben genannten allgemein- und fachdidaktischen Modelle.

Auch wenn die empirische Bildungsforschung sehr stark geworden ist, werden dadurch die allgemein- und fachdidaktischen Modelle nicht überflüssig. Allerdings muss gefragt werden, ob es wirklich so viele sein müssen. Jemand hat es mal ausgezählt und ist auf vierzig solcher Modelle gekommen, von denen lediglich vier bis fünf in der Lehrerbildung eine größere Rolle spielen Die Modelle stehen alle in der deutschen und europäischen Tradition der Aufklärung – und die ist nun schon mehr als 200 Jahre alt.. Deshalb sage ich: So wie Ökonomen sagen, wir brauchen einen Karl Marx für das 21. Jahrhundert, brauchen wir einen Herbart für das 21. Jahrhundert. Was dieser dann machen und sagen sollte kann ich natürlich nicht vorwegnehmen..

Du hast doch aber bestimmt Ideen, in welche Richtung die Reise gehen sollte?

Mir fällt das ein, womit ich groß geworden bin: Für mich ist Mündigkeit im Sinne meines Doktorvaters Herwig Blankertz, der einmal der Philosophieprofessor an der Pädagogischen Hochschule Oldenburg war, die übergeordnete Kategorie. Blankertz begründete das theoretisch, weil die heranwachsende Generation von uns heute gar nicht gesagt bekommen kann, welche Probleme gelöst und welche Antworten in zwanzig bis dreißig Jahren gefunden sein müssen, wenn diese Generation an der Macht ist. Deshalb geht es grundsätzlich nicht anders als so, dass man versucht, die Mündigkeit der Schülerinnen und Schüler zu fördern, damit sie später verantwortlich in der Gesellschaft agieren. An diesem Tatbestand ändert sich im 21. Jahrhundert nichts.

Die Forderung nach Emanzipation und Mündigkeit hat sich sicher nicht erledigt. Wenn man aktuellere Bildungsinitiativen ansieht, wie etwa die Kreidestaub-Initiative, dann gibt es, aus einer Unzufriedenheit mit vielen Schulen und der Bildungspolitik heraus, ein großes Bedürfnis nach Reformkonzepten, die nicht in der Universität abgebildet werden. Was einem aber bei vielen dieser Konzepte auffällt, ist, dass sie gar nicht so neu sind. Selbstreguliertes Lernen, demokratische Schulen – all das sind Ideen, die es schon lange gibt. Wie siehst du den Innovationsbedarf im Bildungswesen?

Die Forderung ist richtig. Die Umstellung auf das Bachelor-/Master-System mit deren Modulen hat nach meiner Meinung die erhoffte Vergleichbarkeit und das einfache Wechseln von der einen Uni in Europa zur nächsten nicht gebracht. Stattdessen kam es zur Verschulung von großen Teilen der Lehre. Das ist lang und breit verhandelt worden – Stichwort Bulimie-Lernen. Es gibt ein viel zu intensives Prüfen, das kritisiere ich. Jetzt ist die Frage, welche neuen Forderungen ich für den Schulbereich habe. Die Ideen sind nicht neu. Ich habe einmal ein so genanntes DREI-SÄULEN-MODELL des Unterrichts und der Unterrichtsentwicklung formuliert. Wir brauchen weiterhin Frontalunterricht, im Modell als Säule 2 mit dem Fachbegriff Direkte Instruktion bezeichnet, dagegen habe ich gar nichts, aber er sollte nicht mehr 80% ausmachen, er sollte auf 30% reduziert werden. Wir brauchen Individualisierenden Unterricht (Säule 3), da kann die Digitalisierung gut helfen. Und wir brauchen projektförmiges Arbeiten und Teamarbeiten, kooperatives Lernen (Säule 4). Diese drei Säulen gehören zusammen, und sie können den Theorierahmen für die Lehr-Lernplanung vom Kindergarten bis hin zur Universität liefern. In der Universität ist die Säule „direkte Instruktion“ sehr stark, in Vorlesungen oder Seminaren, in denen oft auch nichts anderes stattfindet, als dass jede Woche jemand ein Referat hält. Das individualisierte Lernen wird zwar wenig gesteuert von der Uni, ist aber die große Säule – wer sich auf eine Klausur vorbereitet, der sitzt alleine zu Hause und lernt dort. Das kooperative Lernen und das Arbeiten in Projekten, das kommt zu kurz! Da finde ich auch die Kreidestaub-Initiative großartig, weil sie etwas einbringt, das eigentlich die Lehrenden stärker machen müssten. Ich habe, solange ich hauptamtlich an der Uni Oldenburg tätig war, mindestens einmal im Jahr eine Exkursion mit Studenten gemacht. Etwa nach Bielefeld in die Laborschule oder in die Niederlande. Ich wollte auch noch nach Israel, das hat aber aus organisatorischen Gründen nicht geklappt. Ich finde es ganz wichtig, auch in der Uni projektförmig zu arbeiten. Es könnte auch durchaus zu mehr Kooperation von AStA-Aktivitäten und Lehrenden führen, wenn man sagte: Ein Drittel des Studiums sollten so gestaltet werden. Am Ende meiner Lehre, die bis 2009 ging, habe ich jedes Semester eine große Vorlesung mit über 400 Klausuren gehabt. Die habe ich mit zwei Unikollegen und fünf bis sechs Hilfskräften in einer Woche durchgesehen. Das ist pädagogisch betrachtet schierer Unsinn. Wir waren nach einer Woche fertig, aber was war der tatsächliche Bildungserfolg? Er war doch gleich Null. Ich halte das Klausurschreiben für ein ziemlich untaugliches Mittel, um pädagogisch relevante Kompetenz festzustellen.

Klausuren-Schreiben scheint einfach der effizienteste Weg zu sein, so viele Menschen wie möglich in so kurzer Zeit wie möglich abzuprüfen.

Ja, das ist effizient für die Lehrenden, aber damit lange noch nicht effektiv für die Lernenden. In jedem Modul muss eine Note gegeben werden. Warum eigentlich? Wer hat sich das ausgedacht? Das ist doch eigentlich eine Misstrauenserklärung an die Adresse der Studierenden: Wenn Ihr nicht gezwungen werdet, lernt Ihr nichts! Unsinn! Da ist der Wurm drin. Das würde ich, wenn ich das Sagen hätte, sofort verändern und deutlich mehr zensierungsfreie Bereiche einführen. Es ist natürlich schwer umzusetzen, weil das viele Prüfen auf einem EU-weiten Konsens beruht.

Gibt es ein Missverständnis, dass dir hinsichtlich deiner didaktischen Positionen immer wieder begegnet?

Mich stört sehr, wenn jemand sagt: „Meyer ist theoriefern.“ Das ist ein Missverständnis, das durch meinen lockeren Schreibstil gefördert wird. Ich notiere nicht vor jedem Satz, „Hier stützte ich mich auf diese oder jene Theorie“, sondern bemühe mich, einen Text hinzubekommen, der kurz und bündig Informationen liefert. Aber selbstverständlich steht dahinter immer Theoriewissen.  

Du hast dich selbst im Verhältnis von Theorie und Praxis einmal als Dolmetscher bezeichnet.

Ja – ich zähle mich nicht zu den didaktischen Großkopferten. Bei einer Fortbildungsveranstaltung in Schleswig-Holstein sagte mal ein teilnehmender Lehrer, ich sei der Säulenheilige der Didaktik. Da habe ich natürlich sofort widersprochen. Ich bemühe mich, das, was zum Teil in unverständlichem Wissenschaftsjargon formuliert wird, zu übersetzen  und so zu komprimieren, dass es von Berufseinsteigern und auch berufserfahrenen Lehrern, die nicht unendlich viel Zeit für die Lektüre von Fachliteratur haben, verstanden werden kann.

Wenn du abschließend einmal die letzten Jahrzehnte in der Bildung betrachtest, gab es einerseits eine besonders große Hoffnung die sich nicht erfüllt hat und andererseits eine Befürchtung, die sich nicht bewahrheitet hat?

Die Befürchtung war von Anfang an, dass die Umstellung auf Bachelor und Master sich negativ auf die Prüfungsanteile auswirken würde. Ich habe dazu keine aktuelle empirische Studie gelesen, aber ich höre immer wieder von Ausbildern in der zweiten Phase der Lehrerbildung, dass sie genau das sagen. Auch die Oldenburger Studierenden kommen im Referendariat an und sagen: ‚Was muss ich tun, damit ich möglichst zügig meine Punkte sammle?‘ Anstatt zu fragen: ‚Wie kannst du mir helfen, dass ich eine gute Lehrerin oder ein guter Lehrer werde?‘ Das wäre die wünschenswerte Haltung, und die droht umzukippen. An der Stelle gehört politisches Bewusstsein dazu, dass man erkennt, dass die Reform des Studiums einer bestimmten europaweiten Logik folgt, die man nicht unbedingt teilen muss.

Bei der Frage danach, was eingetreten ist und was ich bedaure, ist  die „Abwicklung“ der Lehrerbildung der DDR. Die DDR hatte ja eine einphasige Lehrerausbildung, also ohne Referendariat und Zweites Examen. 1990 hatte ich gemeinsam mit vielen anderen Schulpädagogen die Hoffnung, dass der Oldenburger Modellversuch zur Einphasigkeit jetzt doch wieder eine Chance bekommt. In den fünf neuen Bundesländern, die sowieso in dieser Tradition standen, hätte man es einfach einführen können, weil da die strukturellen Änderungen nur sehr gering gewesen wären. Das ist aber nicht gemacht worden. Ich erinnere mich an ein internes Gespräch im Kultusministerium in Hannover, wo der Ministerialdirigent zu uns Oldenburgern sagte: „Ihr wollt die verlorenen Schlachten von vor zehn Jahren jetzt hier neu im Osten führen, aber das machen wir nicht mit!“ Sie waren da sehr stur.

Ich fordere weiterhin eine viel engere Verzahnung von erster und zweiter Phase, da sind auch an der Uni Oldenburg mit dem Praxissemester behutsame Schritte in die richtige Richtung gemacht worden, aber das ist immer noch weit entfernt von dem, was 1975 bis 1985 schon an der Uni Oldenburg an Theorie-Praxis-Integration praktiziert worden ist.

Das Praxisband im Grund-Haupt-Realschullehramt wäre ein Versuch?

Ja, das meinte ich eben mit dem Hinweis zum Praxissemester. Das ist vernünftig, aber lange noch nicht auf dem Niveau, das wir in der einphasigen Lehrerbildung erreicht hatten. Ich habe auch den Eindruck dass die Betreuung des Praxissemesters von der Uni-Seite aus in den einzelnen Fächern sehr unterschiedlich und hier und dort auch sehr schlecht abläuft. Das Praxissemester soll forschungsbasiert sein. Aber da müssen doch Forschungsfragen der Schule untersucht werden – und nicht die Hobbythemen der Fachdidaktiker.

Abschließend: Welche drei Bücher sollte jeder Lehramtsstudent/jede Studentin gelesen haben?

Im Referendariat wird euch noch oft genug gesagt werden, was ihr lesen müsst. Deshalb kommt hier mein Kontrastprogramm:

–           Jens Möller et. al. (Hrsg.). Basiswissen Lehrerbildung: Schule und Unterricht. Lehren und Lernen. Stuttgart: Klett Verlag. (Ein wissenschaftlich gut abgesichertes, zugleich   praktisch orientiertes Buch zu der Frage: Was kommt im Referendariat auf dich zu?)

–           Frank McCourt (2005). Tag und Nacht und auch im Sommer. München: Luchterhand. (Der Autor schildert in diesem autobiographischen Buch, welche Erfahrungen er als Lehrer an einer New Yorker Berufsschule mit braven, aufsässigen, genervten und herzlich lieben Schülern gemacht hat. Ein Mutmacher für jede und jeden, die bzw. der an der Berufswahl zweifelt.)

–           Otto Gollin (Hrsg.). Welt ohne Krieg: Ein Lese- und Volksbuch für junge Europäer“,
 Düsseldorf: Komet Verlag 1948 (mit einem Vorwort von Axel Eggebrecht). (Ein Versuch, die Katastrophe des Nationalsozialismus aufzuarbeiten, mit Lesetexten für Schülerinnen und Schüler der damaligen Volksschule.)

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