Die »Schere im Kopf« als (schul-)politische Lobotomie

Von der ikonischen Einsamkeit des Unterrichtens häufig überformt wird die Tatsache, dass Lehrkräfte im Berufsfeld »Schule« konstitutiv aufs Engste eingebunden sind, etwa in kollegiale Strukturen der Fachgruppen, disziplinarische Beziehungen zur Schulleitung und den fachlich-pädagogischen Austausch mit Eltern.

Einerseits dienstrechtlich kodifiziert unter anderem über inhaltlich zunehmend detaillierte, mitunter überdeterminierende Kerncurricula sowie in der Beschäftigteneigenschaft auch beamtenrechtlichen Einschränkungen unterworfen, gehört es andererseits aber auch vom Fachverständnis in einer demokratischen Schulkultur her schlicht zum Ethos der Profession, über das unterrichtliche Geschehen im Zweifel auch Rechenschaft ablegen zu können.

Die Befähigung hierzu ist der eigentliche Sinn didaktischer Theoriebildung und damit auch der ersten Phase der Lehrer_innenbildung an Universitäten – allen inneren Widerständen mantrengleich nach am Ende meist unbestimmt bleibender „(mehr) »Praxis«“ blökender Kommiliton_innen zum Trotz, die damit völlig unangemessen bereits vorgeben, zu sein (und beurteilen zu können), was sie über eine sehr lange Zeit erst tatsächlich noch werden müssen, nämlich: »Lehrer_in«.

In der Politischen Bildung, die nicht nur als – nicht selten ohnehin fachfremd abgedecktes – Fach Anliegen bloß einer Fachgruppe, sondern eben auch als Querschnittsaufgabe schulgesetzlicher Auftrag aller Lehrkräfte (!)ist, wird dabei als innerfachlicher Maßstab eines sachgerechten Unterrichts in der Regel auf jene, Ergebnisse einer Tagung im Auftrag der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg zusammenfassende Protokollnotiz Hans-Georg Wehlings (s. u.) abgehoben, der als »Beutelsbacher Konsens« eine in verschiedener Hinsicht bemerkenswerte Karriere beschieden war.

Gerade jener »Beutelsbacher Konsens« – 1976 zudem als ein Minimal-Konsens verstanden zwischen einer eher bürgerlichen Strömung innerhalb der Disziplin, die die bestehende Ordnung als demokratische legitimieren wollte, und einer eher sozialliberalen, die unter dem Schlagwort »Emanzipation« die Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse alseinen andauernden Prozess verstanden hat; also zwischen »Demokratie« und »mehr Demokratie« – wird in jüngerer Zeit nun auch von einer in einem ganz anderen Sinne »transformatorischen« Bewegung in Anspruch genommen, die sich innerhalb von Parlamenten und auch der Zivilgesellschaft erfolgreich etablieren konnte und so bereits in den politischen Diskursen wie Strukturen zu qualitativen Veränderungen unabsehbaren Ausgangs geführt hat. Es überrascht also nicht, dass das symbolpolitisch bedeutsame Feld der Schulpolitik nun stärker in ihren strategischen Fokus gerät.

Mittels »Meldeportalen« sollen, zuletzt auch in Niedersachsen unter dem Titel »Neutrale Lehrer«, Verstöße von einzelnen Lehrkräften, Kollegien und Schulleitungen gegen ein unter anderem im Bezug auf den Beutelsbacher Konsens behauptetes »Neutralitätsgebot« angezeigt und öffentlich angeprangert werden. Dass eine durch solche Kampagnen bezweckte Drohkulisse dabei zur viel beschworenen »Schere im Kopf« führt, dafür schafft allein schon die chronische Arbeitsüberlastung von Lehrkräften über alle Schulformen hinweg ein günstiges Klima, jegliches weiteres Involviert-Werden in Auseinandersetzungen vermeiden zu wollen.

Neben solidarischen Strategien wie die kollektive »Selbstanzeige« ganzer Schulen oder Ironisierungen durch massenhaftes Trolling auf solchen »Meldeportalen« zeigt aber auch eine Gemeinsame Stellungnahme von GPJE, DVPB und DVPW-Sektion zur AfD Meldeplattform »Neutrale Schulen« (zu finden unter: http://gpje.de/stellungnahmen/) ziemlich deutlich, wie dringlich vermittlungsbedürftig gegenüber der Gesellschaft, aber auch den Kolleg_innen die einfache Tatsache zu sein scheint, dass „[k]ontroverse Positionen […] nur so lange als gleichberechtigte Stimmen im demokratischen Diskurs anerkannt werden [können], wie sie mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung (FDGO) in Einklang stehen […]. Verletzen Positionen hingegen demokratische Grundwerte, so dürfen und sollen sie von Lehrkräften als antidemokratische Haltungen kritisiert werden. Lehrer*innen sind verpflichtet, Stimmen und Stimmungen im Unterricht nicht unwidersprochen zu lassen, die sich gegen zentrale Grundrechtsartikel wie Artikel 1 Absatz 1 (»Die Würde des Menschen ist unantastbar.«) und Artikel 3 Absatz 1 (»Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.«) oder gegen zentrale Verfassungsprinzipien wie das Rechtsstaatsgebot oder die Gewaltenteilung (Art. 20 GG) richten.“

So wenig wie Grundgesetz und Beamtenrecht gehen auch die (zudem nur im textimmanent und zeithistorisch engen Zusammenhang angemessen ernsthaft interpretierbaren) Prinzipien des »Beutelsbacher Konsenses« nirgends von einer wie auch immer gearteten »Neutralität« aus – im Gegenteil.

von Sven Rößler 

Extra Kasten:

  • Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, den Schüler […] an der ‚Gewinnung eines selbstständigen Urteils‘ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze von Politischer Bildung und Indoktrination. […]“ – Die »Grenze« verläuft also innerhalb selbstverständlich zugestandener Werthaltig- und Inhaltlichkeit (= Politizität) Politischer Bildung, sie kann wesentlich nur qualitativ, d. h. hier: politisch bestimmt werden. – 
  • Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen. […] Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte […].
  • Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie […] die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflußen. […]“
(Hans-Georg Wehling. Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch [1977], in: Widmaier, Benedikt; Zorn, Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung. Bonn 2016, S. 19-27, hier: S. 24)

(Hans-Georg Wehling. Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch [1977], in: Widmaier, Benedikt; Zorn, Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung. Bonn 2016, S. 19-27, hier: S. 24)

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