Im Jahre 2012 schätzte ORAM, eine internationale NGO, dass es weltweit etwa 175 Millionen Menschen gibt, die schwul, lesbisch oder transsexuell sind und gleichzeitig in Verhältnissen leben, in denen sie verfolgt würden, sobald ihre sexuelle Orientierung öffentlich bekannt wird. Einer Verfolgung nach freiwilligem oder unfreiwilligem Outing sind 1% dieser Menschen ausgesetzt, von dem sich wiederum nur 1% überhaupt auf die Flucht begeben kann, da die Lage in den umliegenden Ländern keineswegs besser und der Transit in europäische und nordamerikanische Länder gefährlich und teuer ist. Am Ende stehen 2.500 Menschen weltweit, denen aufgrund von Diskriminierung wegen ihrer sexuellen Orientierung ein rechtlicher Status zuerkannt wird. Lediglich 15 Staaten erkennen 2012 einen solchen Verfolgungsgrund an (Tjark Kunstreich: Schwulenhass in der Krise, Hamburg 2015).
Diese Ausgangslage (die sich bis heute nicht wesentlich verändert hat; vielmehr steigt die Anzahl an Staaten, in denen Homosexualität kriminalisiert wird) erfordert, dass der Kampf gegen die Repression von Menschen mit von der Norm abweichender sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität von einem Bewusstsein für und einer Analyse der historischen Situation in globalem Maßstab auszugehen hat. Que(e)r dazu stehen hingegen Forderungen nach einem politischen Aktivismus, der sich der Situation von Geflüchteten unmittelbar zuwenden und sie praktisch verändern will. Damit ist nichtgesagt, dass unmittelbare Hilfe für in Europa ankommende Geflüchtete nicht unbedingt notwendig und auch geboten wäre. Obwohl Deutschland zu jenen Staaten gehört, in denen sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität formal anerkannte Asylgründe sind, können die Geflüchteten mit der Gewährung von Asyl erfahrungsgemäß nicht rechnen. Während weltweit Millionen von Homo- und Transsexuellen der Verfolgung schutz- und hilflos ausgeliefert bleiben, macht sich in Deutschland die Befürchtung breit, das Land könne von homo- und transsexuellen Geflüchteten überrannt werden. Die Direktive der deutschen Flüchtlingspolitik ist entsprechend auch hier, es den Geflüchteten schwer zu machen, indem deren Angaben über die eigene sexuelle Orientierung in Frage gestellt oder diese in peinlichen und hasserfüllten Befragungen ‚abgeprüft‘ wird. Die Beispiele sind hinlänglich bekannt, bei denen Geflüchteten ihre Homosexualität in Abrede gestellt wird, weil auf ihren Smartphones keine schwulen Pornos zu finden sind oder sie sich nicht hinreichend ‚effeminiert‘ verhalten.
Dass deutsche Asylbeamte die Angst vor den eigenen homosexuellen Neigungen an Geflüchteten ausagieren ist ebenso intolerabel wie die weitgehende Ignoranz gegenüber einem legalen Fluchtgrund überhaupt. Besonders tragisch ist in diesen Fällen: Die Repression der Sexualität vollzieht sich in den Herkunftsländern weitaus drastischer als hierzulande. In manchen Ländern können die Menschen gar keine positiven Erfahrungen mit dem eigenen Begehren machen, weil es so weit zum Verschwinden gebracht wird, dass sie nicht mal über einen Begriff dafür verfügen. Gleichwohl wird ihnen zugemutet, in einem fremden Land das erste Mal mit Verwaltungsbeamt*innen darüber zu sprechen. Zu Recht erfahren die Geflüchteten in Anbetracht ihrer Leidensgeschichte, die über Jahre ihr Begehren selbst an ein Angstgefühl gebunden hat, dies als eine ungeheure Erniedrigung. Hinzu kommt die Gewalt gegen Homo- und Transsexuelle in den Sammelunterkünften und in den sehr oft islamisch geprägten Familienzusammenhängen auch hier in Deutschland. All dies erfordert fraglos, dass sich Zusammenhänge formieren, die sich der spezifischen Situation dieser Geflüchteten zuwenden und sie dabei unterstützen, ihre durch äußere Gewalt erzwungenen Probleme zu bewältigen. Daran hängen ganz konkrete Erfordernisse: Aufklärung der Geflüchteten über ihr Recht, Verfolgung wegen sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität als Asylgrund geltend zu machen (was ihnen oft unbekannt ist), angemessene Beratung vor dem Asylverfahren, das Verfassen fürsprechender Stellungnahmen, die Forderung nach sensiblen Dolmetscher*innen und Anhörer*innen, das Bereitstellen von Orten, an denen man über seine Probleme sprechen und letztlich auch einfach Anschluss finden kann. Zudem ist Kontakt zu professionellen Einrichtungen herzustellen, damit Unterstützung auch bei Traumatisierungen und anderen gesundheitlichen Problemen gewährleistet ist oder Gewaltschutz bereitgestellt wird. Vieles wäre zu ergänzen. Und all dem eine gesellschaftstheoretische Analyse der allgemeinen Situation für Schwule, Lesben und Transpersonen voranzustellen, ist erstens nicht nötig und wäre zweitens – das ist wichtiger – ein der vernünftigen Willensbestimmung ungemäßer Umweg.
Umgekehrt gilt aber, dass man aus der Erfahrung des Queer Refugee Supports heraus nach der Begrenztheit der eigenen Praxis fragen muss. Dies führt dann notwendig zu der Einsicht, dass man mit einer Unterstützung in dem dargestellten Sinne nicht wesentlich mehr betreibt als Elendsverwaltung. Durchaus erfolgt dies in bester Absicht, nicht zuletzt weil das Handeln auf die Ermöglichung des Bleibens der Geflüchteten angelegt ist und darauf, ihre Situation zu verbessern. Über die Selbstvergewisserung der eigenen guten Absicht wird dann aber allzu schnell übersehen, dass man das grundlegend Falsche an der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ verdrängt: die Welt zerfällt in partikulare Staaten und Millionen von Menschen werden fortwährend und wiederkehrend in der ökonomischen Konkurrenz zwischen ihnen zerrieben und – sofern sie sich als nicht verwertbar erweisen – ihrem Tod im Mittelmeer oder an der türkisch-syrischen Grenze überlassen. Diejenigen, die nicht die Möglichkeit einer Flucht haben, bleiben verlassen und geschunden in ihren Herkunftsländern. Und ob der Asylantrag von Geflüchteten hierzulande bewilligt wird, erscheint allen Beteiligten stets als ein großer Zufall. So verfängt sich die Unterstützungsarbeit notwendig in einem niemals enden wollenden Kreislauf an Asylanträgen, Beratungen, Ablehnungsbescheiden und Klagen. Hier wird die Verwaltungsfunktion der Refugee Support Gruppen deutlich, die unter dem Stichwort ‚Ehrenamt‘ in Dienst genommen werden und, bei allem Autonomieanspruch, eine Funktion in der Steuerungslogik des Staatswesens erhalten. In den europäischen Staaten wird seit Jahren Sozialabbau betrieben und letztlich wird auch in der Regelung der ‚Flüchtlingsfrage‘ auf Eigenverantwortung in Form von unbezahlter Arbeit gesetzt. Dass also nicht zuletzt im politischen Engagement der Souverän der Zwecklosigkeit (das Kapital) treibendes Motiv bleibt, zeigt sich in zweierlei Hinsicht: Objektiv in der Verwertungslogik der Fluchtverwaltung, subjektiv in dem auf der verdrängten Erfahrung dieser Hoffnungslosigkeit konstituierten, aktivistischen Bewusstsein. So gedeiht in Deutschland eine Willkommenskultur, die sich aus einem obsessiven Verhältnis zum Opferstatus der Geflüchteten speist. Der queere Aktivismus, der seit zwei Jahren völlig zurecht in die Kritik geraten ist, bemüht sich beständig darum, vermittelst von Konzepten wie Intersektionalität oder critical whiteness und vor allem einem ahistorischen Rassismusbegriff die Schuld an den herrschenden Verhältnissen zu personalisieren und Gesellschaftskritik durch einen kulturalistisch verklärten Kampf gegen die Hegemonie weißer Männer zu ersetzen. Dadurch hat man es mit einer falschen Rebellion gegen die Verhältnisse zu tun, in der die Lage der Geflüchteten zum probaten Mittel wird, damit politische Akteur*innen ihre autoritären Bedürfnisse ausleben können. So lautet die progressiv verkleidete Forderung allzu oft, Geflüchtete sollten ‚empowert‘ werden – und zwar als Geflüchtete. Dazu kann sich nur hinreißen lassen, wer einen latenten Wunsch zur Erbauung am Opferdasein der Geflüchteten hat, deren kaum zu ertragende Leidensgeschichte nicht überwunden, sondern in einer Identität kondensiert werden soll, die sich sogleich den hiesigen Vorstellungen von dem, was ‚queer‘ sei, subsumiert. Dem korrespondiert, dass sich in diesem Aktivismus auch die politischen Forderungen in einer Weise verändern, dass sie nicht mehr auf eine grundsätzliche Veränderung der Situation von Geflüchteten zielen. Dass „die Diskussion zur sogenannten Flüchtlingskrise um die Frage kreist, ob die Politik moralischdazu verpflichtet ist, weiter Flüchtlinge aufzunehmen oder nicht, macht deutlich, dass auch die Wohlmeinenden das Asyl als ein Grundrecht– also als ein der Diskussion gerade enthobener rechtlicher Anspruch – verabschiedet haben.“ (Leo Elser, Kritik der Flüchtlingspolitik, in: sans phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik 8/2016). Wer es mit Geflüchteten-Support ernst mein, hat nunmehr die Aufgabe, die Geflüchteten auch gegen so geartete Freunde zu verteidigen.
von Steffen Stolzenberger
(Gründungsmitglied und seither aktiv in der Gruppe Queer Refugees Hannover)