Fortschritt und Regression

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Zum zweiten Mal findet in diesem September die kritische Theorie Konferenz in Oldenburg statt, die einst in Istanbul begann. Aus diesem Anlass standen Volkan Çıdam und Philip Hogh, zwei der fünf Organisatoren, zum Interview über die Kongressreihe und das Thema der diesjährigen Konferenz bereit. 

Wie ist die Kongressreihe entstanden?

Volkan Çıdam: Die Idee hatten wir 2014. 

Philip Hogh: Volkan und ich waren in Istanbul und hatten die Idee anlässlich des 50. Jubiläums der „Negativen Dialektik“ von Adorno einen Workshop zu machen. Eigentlich war auch die Idee, dass man die Kritische Theorie nicht nur immer in Deutschland, den USA oder England stattfinden lassen lässt, sondern auch einmal Orte einzubeziehen, wo das Thema durchaus auch eine Rolle spielt. Volkan und ich haben bei allen Unterschieden doch große Gemeinsamkeiten im Verständnis von Adorno, daher bot es sich an, es in Istanbul zu machen. Wir haben am Anfang an einen kleinen Workshop gedacht. Volkan hatte dann sehr schnell den Impuls, es größer zu machen. 

Çıdam: Es gibt international zwei große regelmäßige Konferenzen zur kritischen Theorie – die eine in Rom, die andere in Prag. Ich dachte, warum nicht eine dritte in Istanbul? Die Boğaziçi Unversität gab uns damals die notwendige Grundlage dafür. Dann habe ich schnell auch Zeynep Gambetti einbezogen, die dort ‚Senior Professor‘ ist. Es war dann klar, dass es auch größer werden könnte. 

Hogh: Die Konferenz 2016 hat drei Wochen vor dem sogenannten „Putsch“ stattgefunden. Die politische Lage in der Türkei war auch schon davor angespannt, aber danach wurde, durch die Reaktion der AKP auf den Putsch, deutlich, dass es sich in eine bestimmte Richtung entwickeln würde. Es gab eine immer offenere Präsenz von Zivilpolizei und größeren Druck auf alle, die sich mit Erdogans Politik nicht einverstanden erklärt haben. In dieser Lage kommen keine internationalen Forscher zu einer Konferenz, und das auch zurecht. Wir haben dann überlegt, wie wir weitermachen können. 

Çıdam: Einige von uns hatten 2016 eine Petition unterschrieben, für Frieden und Wissenschaftsfreiheit. Da kamen dann schnell Gerüchte, dass wir angeklagt werden sollten. Es war also auch bei der ersten Konferenz schon eine gefährliche Lage für einige von uns. 

Gibt es diesbezüglich schon ein Urteil?

Çıdam: Es gibt noch kein Urteil. Jeder bekommt eine andere Strafe. Manche können an der Universität bleiben, andere nicht. Zeynep ist in die USA emigriert, ich habe momentan in Stipendium in Deutschland. Aber wir sind beide noch an der Boğaziçi. 

Hogh: Nach der ersten Konferenz kam dann noch Gaye İlhan-Demiryol dazu, um noch einmal ein breiteres wissenschaftliches Feld zu haben, in diesem Fall in Form der Politikwissenschaften, auch mit einem stärkeren Bezug zu Hannah Arendt. Julia König kam als fünfte Person dazu, weil der Vorbereitungsprozess sehr intensiv ist und man eine Reihe von Mitwirkenden braucht. 

Çıdam: Damals war noch der Plan, es abwechselnd in Istanbul und Oldenburg zu machen. Das ist auch nach wie vor die Idee. Dafür muss sich aber die politische Lage in der Türkei ändern, was bislang noch nicht passiert ist.  Deswegen haben wir die zweite Konferenz „im Exil“ genannt. Ich hoffe, dass wir sie eines Tages auch wieder an der Boğaziçi veranstalten können. 

Hogh: Die erste Konferenz in Istanbul war wirklich sehr gelungen. Wir hatten Einreichungen aus 40 oder 50 Ländern. Und nicht nur aus Europa und Nordamerika, wie es sonst bei den Konferenzen oft der Fall ist, sondern aus Indien, Pakistan, dem Iran, aus China. Das hat der Konferenz einen ganz eigenen Spirit gegeben. Man ist als jemand, der kritische Theorie betreibt, ja immer ein Stückweit isoliert. Da haben wir aber gemerkt, dass es weltweit Leute gibt, die mit einer klaren Ausrichtung auf kritische Theorie arbeiten. Der Standort in Istanbul hat nochmal Leute angesprochen, die in andere Länder nicht gekommen wären. Wir haben wir natürlich versucht, diesen internationalen Geist mit nach Oldenburg zu nehmen. Das hat auch ganz gut geklappt. Die Anzahl der Länder bei den Einreichungen war fast genauso hoch. Der Campus der Boğaziçi  ist allerdings der schönste der Welt, da kann Oldenburg nicht ganz mithalten, haha. 

Gibt es schon einen Eindruck, wie sich das bei den aktuellen Einreichungen verhält?

Çıdam: Der Faktor der Internationalität hat sich nicht merklich verändert. Es gibt dieses Mal ein paar mehr Einreichungen aus England. 

ÇIDAM: Es gibt auch Leute, die sich jedes Mal beworben haben und kommen. Das finde ich auch wichtig, eine dauerhafte Verbindung in der gemeinsamen Arbeit herzustellen.

Wie kommt ihr bei einer Gruppe, die so viele verschiedene wissenschaftliche Schwerpunkte hat, auf das gemeinsame Thema? 

Hogh: Es geht ehrlich gesagt ein Stück weit auch nach persönlicher Vorliebe. Die erste Konferenz, die sich auf Adorno spezialisierte, war mein Wunsch. Die zweite Konferenz zur Arendt war Zeynep Gambettis Fokus. Und die dritte jetzt bezieht sich eher auf Volkans Schwerpunkt. Aber wir arbeiten an den Call natürlich zusammen.

Çıdam: Das nächste Mal wären also Gaye oder Julia dran.

Hogh: Dann dürfen wir vielleicht alle Freud lesen. 

Es gibt einen deutlichen Unterschied im Begriff der „Kritischen Theorie“ in Deutschland und der „Critical Theory“ im internationalen Kontext. Teilweise bezieht sich die erstere sogar sehr kritisch auf Strömungen der zweiten, etwa auf Vertreterinnen des Post-Strukturialismus. Wie seht ihr dieses Verhältnis?

Çıdam: Philip und ich haben ein ähnliches Verständnis von kritischer Theorie – letztlich die Autoren der „Frankfurter Schule“. Mit Zeynep hatten wir diese Diskussion dann auch schon, sie hatte ein viel breiteres Verständnis. Wir haben dann gesagt, dass der Fokus schon auf der klassischen kritischen Theorie liegt, wir aber andere Perspektiven auch einbeziehen. 

Hogh: Dieser Einbezug ließe sich ja auf verschiedene Weise machen. Man könnte es in Form von Vergleichen machen, man könnte kritische Bezugnahmen stark machen und sich so aneinander abarbeiten. Auch die Kritische Theorie in der Frankfurter Tradition muss sich auf bestimmte Weise zu Autoren wie Foucault, Butler und Derrida verhalten, weil sie wichtig sind, um die aktuelle Diskussion zu verstehen. Wie genau man es bewertet, ist dann erst das Ergebnis einer Auseinandersetzung. Die eigenen Erkenntnisse müssen auch in dieser Auseinandersetzung geschärft werden. International stammt der Begriff der Critical Theory weniger aus der philosophischen Diskussion und mehr aus der Literaturtheorie. Schon daher sind es andere akademische Traditionen. In Deutschland gibt es die Auseinandersetzung aber auch. In Frankfurt gab es 2009 eine Konferenz, die hatte den Titel „The futures of Critical Theory“, an der war auch Volkan beteiligt. Man versucht den Unterschied auszudrücken, indem man kritische Theorie [in der breiteren Verwendung] mit kleinem „k“ schreibt, bzw. critical theory mit kleinem „c“. Auch wenn unser Verständnis letztlich strenger ist, und wir uns in einer Tradition zur Frankfurter Schule sehen, muss man auch die anderen Positionen kennen, wenn man sich nicht nur um sich selbst drehen will. Ich selbst habe ja viel zu Adorno gearbeitet, aber auch immer versucht, es mit aktuellen Diskussionen in Verbindung zu bringen, weil sonst ein Stück weit die Gefahr besteht, das Ganze ideengeschichtlich zu verkürzen und die theoretische Stoßkraft zu verlieren, wenn man nicht Positionen mit berücksichtigt, mit denen man dann in ein, natürlich sehr kritisch zu führendes, Gespräch kommt. 

Çıdam: Die Konferenz in Prag ist eher auf aktuelle Fragestellungen bezogen, die in Rom eher die frühe kritische Theorie – wir wollten die ganze Spanne beibehalten. 

Die Frage ist ja, ob man überhaupt einen gemeinsamen Maßstab teilt, anhand dessen man dann ein kritisches Gespräch führen kann.

Hogh: Ich finde es immer sehr schwierig, das auf einer abstrakten Ebene zu klären. Wenn man sich mit bestimmten Phänomenen der Gegenwart beschäftigt, und das versucht aus der Perspektive der kritischen Theorie zu analysieren oder zu kritisieren, dann wird man schon feststellen, ob man derart unterschiedliche Ansätze hat, oder eben auch nicht. Was ich inhaltlich enttäuschend finde sind Kritiken „der“ Postmoderne oder „der“ post-kolonialen Theorie – wenn man es mit Lyotard zu tun hat ist eine ganz andere Theorie als bei Derrida, und die ist nochmal völlig unterschiedlich zu der Foucaults. Diese Positionen teilen auch untereinander viele Grundannahmen nicht und kritisieren einander scharf. Ähnliches gilt übrigens auch für „die“ analytische Philosophie. Wenn es etwas bei Adorno gibt, dass ich immer stark verteidigen würde, dann, dass die Kritik bestimmt sein muss, und dass sie ihren Gegenstand als bestimmten und konkreten vor Augen haben muss. Wenn man sich mit post-strukturalistischen Positionen beschäftigt, muss man es daher auch ganz genau machen. Was dann Maßstab der Kritik ist – für Adorno, oder für einen post-strukturalistischen Denker – zeigt sich in der Auseinandersetzung. Aus dieser Debatte kann man dann etwas ziehen. Theoriepolitische Abgrenzungsversuche kann ich schon nachvollziehen, aber sie sind theoretisch nicht sehr ergiebig. 

Çıdam: Die Konferenz soll unter anderem genau der Ort sein, an der diese Probleme debattiert werden können. Von Anfang an war eine Position, der wir begegnet sind, die, dass die Frankfurter Schule eurozentrisch sei. Die international unterschiedlichen Perspektiven bieten auch die Möglichkeit, diese Behauptung zu testen und die Diskussion so weiterzuführen. 

Dann noch einmal konkreter: Das Thema dieses Mal ist „History, Progress, Critique“. Im Ankündigungstext bezieht ihr euch dabei auf den Begriff der „Dialektik der Aufklärung“. Man hat doch nun aber den Eindruck, dass diese Dialektik in den genannten Theorien einer einseitigen Verurteilung der Aufklärung gewichen ist. 

Çıdam: Als wir darüber redeten, den Fortschrittsbegriff zum Thema zu machen, hat Amy Allen gerade ihr Buch, „The End of Progress: Critical Theory in Postcolonial Times“, veröffentlicht. Da diskutiert sie genau das innerhalb der Fragen der Frankfurter Schule. Die Frage ist daher wichtiger geworden – ob sie wirklich eurozentrisch ist oder nicht. Wenn wir die post-koloniale Kritik an der Frankfurter Schule ernst nehmen wollen, wie können wir unser Geschichtsverständnis revidieren? Viele der Abstracts, die uns erreicht haben, thematisieren das.

Hogh: Die Diskussion darüber, wie genau sich die kritische Theorie zu Ansätzen post-kolonialer Theorie verhält, hat gerade erst angefangen. Das ist noch längst nicht abschließend geklärt. Ich kenne auch Texte, die so klingen, wie du es angesprochen hast, dass die Aufklärung also einseitig kritisiert wird. Wenn man Nikita Dhawan liest, dann gibt es Texte, in denen es genauso klingt. Aber es gibt auch Texte, bei der dann die Feststellung ist: „nunja, aber wir haben leider nichts anderes als Aufklärung. Dass man das heute nochmal anders machen muss als vor 50 Jahren ist geschenkt, aber wir können auch nichts anderes machen als uns wechselseitig zu erläutern, wie die Welt beschaffen ist und was für Probleme es zu lösen gilt. Und letztlich haben auch wir einen Begriff von Aufklärung – wenn nicht explizit, dann auf jeden Fall implizit.“ Ich weiß selbst nicht, wie es weiter gehen wird, ich würde mir da auch kein abschließendes Urteil anmaßen. Die Debatten müssen geführt werden.

Çıdam: Ich bin mit der Tradition der Frankfurter Schule aufgewachsen. Unsere Konferenz jetzt gibt uns die Möglichkeit, uns diesen Fragen zu widmen, etwa ob wirklich noch eine stärkere Aufklärungskritik in die kritische Theorie einbezogen werden muss. Ich vertrete dabei einen starken Vernunftbegriff. Die Diskussion darüber haben wir dann auch schon unter uns im Organisationsteam, weil Zeynep stärker aus der französischen Philosophie kommt. Sobald ich „Vernunft“ sage wird klar, dass es für sie etwas ganz anderes bedeutet. Aber das ist die Gelegenheit einer Konferenz, die eigenen Vorurteile und Vorkenntnisse zu anderen Denktraditionen zu überprüfen und eine gewisse Offenheit zu bewahren. 

Eine der Grundfragen des Themas der Konferenz ist, wie sich das Verhältnis von technischem Fortschritt, den man objektiv feststellen kann, zur gesellschaftlichen Entwicklung verhält. Im Silicon Valley, bei der Transhumanisten, aber auch etwa bei Steven Pinker und dessen letztem Buch „Enlightenment Now“ gibt es ja immer noch einen manchmal recht naiv anmutenden Fortschrittsoptimismus.

Hogh: Bei Pinker gibt es einige beeindruckende empirische Darstellungen – zum Beispiel die weltweit wirklich extrem gesunkene Kindersterblichkeit, die mir so vorher auch nicht bewusst war. Die Aufbereitung bestimmter Daten ist hier schon interessant. Aber diese Daten erlauben natürlich kein vernünftiges Urteil über die Gesellschaft, in der man lebt. Ich bin sehr zurückhaltend damit, das Verhältnis von technischem und gesellschaftlichem Fortschritt genau zu bestimmen. Ich glaube aber, dass es gesellschaftlichen Fortschritt ohne technischen Fortschritt nicht geben kann, wenn man unter technischem Fortschritt auch etwas versteht wie bessere Herstellung von Nahrungsmitteln, bessere Linderung von Krankheiten – ein besseres Auskommen des Menschen mit der Natur, ganz schlicht gesagt. Die entscheidende Frage heute ist, und darin ist die „Dialektik der Aufklärung“ leider immer noch sehr aktuell, warum gerade in Zeiten, in denen der technische Fortschritt beeindruckend ist, die Möglichkeit, Krankheiten zu heilen, Nahrungsmittel zu produzieren und alle möglichen anderen Dinge besser zu machen als in der Vergangenheit, warum man genau in solchen Zeiten, also auch jetzt, einen beängstigenden autoritären Backlash erlebt, und das weltweit. Ich will nicht sagen, dass wir in derselben gesellschaftlichen Lage leben, in denen Adorno und Horkheimer waren, als sie die Dialektik der Aufklärung geschrieben haben. Aber die Frage, wie sich das eine zum andere verhält, ist immer noch aktuell. Und es gibt heute noch nicht einmal den Konflikt zwischen Kapitalismus und Realsozialismus, wie er für sie damals eine wichtige Rolle gespielt hat. Auch dieser Konflikt ist für uns weg, aber die Frage, wie man es sich erläutern kann, dass in Zeiten, in denen es durchaus möglich wäre, den Hunger abzuschaffen, warum genau da der Autoritarismus durchgreift, ist sehr wichtig. Die Frage lässt sich rein theoretisch wohl auch nicht beantworten. Eine Aufgabe, die die kritische Theorie heute stärker hat, ist es, politische Konflikte zu analysieren und zu erforschen, wie sich bestimmte Ideologien entwickelt haben. Das lässt sich alleine durch Adorno- und Hegellektüre nun wirklich nicht beantworten. 

Çıdam: Der Begriff des Fortschritts innerhalb der kritischen Theorie lässt sich aber nicht nur durch den der ‚Dialektik der Aufklärung‘ festmachen. Auch Adorno hat ihn später noch einmal anders reflektiert. Was wichtiger ist, wenn man über den Fortschritt in der kritischen Theorie spricht, ist eine methodische Frage: wenn kritische Theorie sich durch etwas auszeichnet, dann ist es eine bestimmte Methodologie. Kritische Theorie verfährt immanent, sie ist immanente Kritik. Um immanente Kritik zu leisten benötigt man Geschichtsphilosophie. Man muss sagen können, welche Normen man aus welchen Gründen für wichtig erhält. Das tun Adorno und Horkheimer. Das macht aber auch Habermas. Es ist kein Zufall, dass einer der ersten Bücher von Habermas eines zum historischen Materialismus war, als Revidierung von historischem Materialismus. Wir brauchen immer noch eine „schwache“ Form von Geschichtsphilosophie. Deswegen ist es wert, die Idee des Fortschritts weiterzudenken. 

Schwach in dem Sinne, dass man nicht mehr an einer Fortschrittsteleologie festhalten kann?

Çıdam: An einer hegelianischen oder orthodox-marxistischen Geschichtsphilosophie kann man nicht festhalten. Damit kann man keine Kritik betreiben. Das wird dogmatisch. Wir können nicht an Theorien festhalten, die eine Theodizee des Fortschritts darstellen, die diesen also einfach so rechtfertigen, wie wir ihn bisher kennen gelernt haben. 

In eurem ‚Call for Paper‘ der der Konferenz stelltet ihr als ein mögliches Thema auch die Dekonstruktion des Gegensatzpaares von ‚Progression‘ und ‚Regression‘ dar. Würdet ihr die Position denn teilen, diesen aufgeben zu müssen?

Hogh: Ich würde das Begriffspaar ‚Progression‘ und ‚Regression‘ auf keinen Fall über Bord schmeißen. Ich bin gespannt was Rahel Jaeggi, die auch bei uns vortragen wird, dazu in ihrem neuen Buch sagen wird. Das heißt genau „Fortschritt und Regression“. Das Verhältnis wird zentrales Thema der Konferenz sein. Ich persönlich verwende den Begriff ‚Regression‘ wesentlich häufiger als den Begriff Fortschritt, was mit meinem Hang zum Negativismus zu tun hat. Ich bin sehr zurückhaltend geworden in der Verwendung des Fortschrittbegriffs. Ich finde es präziser, bestimmte Phänomene in ihrer Negativität darzustellen als eine Theorie darüber zu entwickeln, wie es besser wäre. Das hat etwas mit meinem eigenen Ansatz zu tun. Aber ganz grundlegend braucht man, denke ich, die beiden Begriffe immer noch. Man muss sich aber immer wieder darüber verständigen, wie genau man sie verstehen kann. Genau das ist Gegentand der Konferenz. 

Çıdam: Es ist eine binäre Opposition, daher ist es aus der post-strukturalistischen Perspektive etwas, was man kritisieren müsste. Aber ich selbst glaube auch nicht, dass sie sich wegdenken lassen. Wenn wir über Fortschritt sprechen, dann müssen wir auch über Regression sprechen. Ich wüsste nicht, wie wir es ohne diese Begrifflichkeiten überhaupt denken können. In unserem Call ist es eine Einladung an Dekonstruktivisten, dies zu kritisieren. Vielleicht hilft es dann am Ende auch uns, darüber anders zu denken. 

Als eine grundsätzliche Ausrichtung der Konferenz lässt sich ein bestimmtes Verhältnis von Theorie und Praxis festmachen, wie es die klassische kritische Theorie ausmachte. Wie versteht ihr die Konferenz in Bezug auf diese Grundannahme?  

Hogh: Bei der Frage nach Theorie und Praxis geht es darum, wie man denken kann, dass sich Gesellschaft verändern lässt. Das Problem stellt sich auch heute noch. Gegenüber der Theorie wird oft erhoben, dass sie „nur“ Theorie ist, und darin nicht ernst macht mit ihrem Anspruch, einzugreifen und die Welt zu verändern. Wenn man aber an Adorno denkt, dann war es bei ihm so, dass er vertreten hat, dass jedem Eingriff in die Welt ein bestimmtes Verständnis, eine bestimmte begriffliche Erkenntnis zugrunde liegen muss, womit man es eigentlich zu tun hat. Wenn man die Theorie nur zum Hilfsmittel macht, dann hat es auch schlechte Folgen für die Praxis. Die Praxis droht dann immer, in die falsche Richtung zu gehen. Wir betonen das für unsere Konferenz, weil ich denke, dass es heute nochmal besonders problematisch ist. Mir geht es auch an so vielen Stellen so, dass sich an so vielen Stellen so schnell so viel verändern müsste, dass man eigentlich gar nicht mehr hinterherkommt. Wenn man es ernst meint mit der kritischen Theorie, ist das sehr schwer auszuhalten, weil man einerseits das Geschäft, das man betreibt, und das ist die Theorie, ernst nehmen muss, aber auf der anderen Seite auch nicht einfach nur die Hände in den Schoß legen kann und sagen: naja, ist bin halt Theoretiker, um die Praxis kümmere ich mich einfach nicht. Ich glaube, was man machen muss, und das ist die Mindestbedingung, um kritische Theorie zu betreiben, ist dieses Dilemma zu verstehen und zu denken. Erstmal einzubekennen, dass das ein großes Problem ist. Das ist der große Unterschied zu vielen anderen Perspektiven, für die noch nicht einmal das Problem besteht. 

Çıdam: Die These der Einheit von Theorie und Praxis sollte man nicht als eine Unmittelbarkeitsthese verstehen. Das wäre genau falsch. Aus meiner Perspektive hilft mir Adorno zum Beispiel, den armenischen Genozid zu verstehen. Es ist eine mittelbare Weise, darüber nachzudenken. Aber es hilft mir, heute an Phänomenen der Vergangenheit zu arbeiten. Das hat scheinbar keinen Einfluss auf das, was wir in der Türkei heute vorfinden. Aber es hat genau deswegen keinen Einfluss, weil wir über diese Dinge nicht in mittelbarer Weise denken. Wir brauchen mehr Theorie, um richtig aktiv zu werden. Die Unmittelbarkeitsthese dagegen ist populistisch. Es sind die Populisten, die einen Aktivismus fordern, der die Welt unmittelbar verändern könnte. Theorie hat ihre Schranken. Aber weil wir sie dem Denken unterwerfen, verändern wir unsere Position, wie wir Gesellschaft denken, und damit verändern wir auch bereits die Gesellschaft. Das ist das, was ich unter der Einheit von Theorie und Praxis verstehe. Nicht: erstmal denken und dann dies in der Praxis umsetzen. Das wäre genau die falsche Vorstellung von diesem Verhältnis. 

Interview von Ulrich Mathias Gerr

kel der Kleinen Weltbühne, der demnächst online gestellt wird.

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