Es war einmal ein Mann, der galt als sehr weise. Er hatte einen Ziehsohn, der aber von seiner Adoption nichts wusste. Eines Tages kam der Junge zu seinem Vater, um sich eine Geschichte erzählen lassen. Sein Vater erzählte ihm nämlich immer im Brustton der Überzeugung, als hätte er sie selber erlebt, fantastische Geschichten, die der Junge zwar für sich schon lange als fantastische entlarvt, aber sie dennoch aus irgendeinem Grund liebgewonnen hatte. So sprach er: „Du hast mir schon lange keine Geschichte mehr erzählt.“ Darauf antwortete der Vater: „Ich dachte, du wärest langsam zu alt dafür.“ „Nein, nein,“ wendete der Junge ein. „Ich mag deine Geschichten. Bitte erzähle mir wenigstens noch eine letzte Geschichte.“ Der Vater stimmte unter dieser Bedingung zu und fing an:
„Es war einmal ein Kindelein,
das war klug und frisch heraus.
Die Mutter webte Tücher fein.
Der Vater wachte übers Haus.“
„Das klingt wie unsere Familie. Soll ich etwa das Kind sein?“, unterbrach der Junge. „Das klingt gar nicht so spannend wie sonst. Und du hast deine Geschichten noch nie gereimt. Macht das nicht alles unnötig kompliziert?“ Der Vater antwortete ruhig: „Nein, du bist nicht das Kind. Aber warte doch erst einmal ab. Außerdem ist es eine besondere Geschichte. Mein Lehrer hat mir beigebracht, dass man in der Dichtkunst erst durch Regeln und Einschränkungen die wahre Freiheit in der Sprache erlangt.“ Der Junge schaut etwas ungläubig, aber akzeptiert die Erklärung, weil in ihm doch etwas die Geschichte weiterhören wollte. Der Vater fuhr fort:
„Der Vater schenkte eines Tages
seinem Kind ein Medaillon.
Schon sein Urgroßvater gab es,
als ein Erbstück seinem Sohn.
Der Junge wollts in Ehren halten,
doch sah die Mutter leidlich weben
Tag ein, Tag aus, an heißen, kalten
als führe sie ein Sklavenleben.
Aus Mitleid und aus Lieb zu ihr
tauscht er ein das gute Stück
für ein Horn von einem Stier
und der Inschrift „Komm zurück!“
„Das ist aber ein merkwürdiges Geschenk“, unterbrach der Junge die Erzählung. „Davon hat sie doch auch nichts.“ „Ich hab doch gesagt, du bist schon zu alt für solche Geschichten.“, sprach der Vater.
„Früher hättest du nicht alles hinterfragt, sondern hingenommen. Ich kann nichts dafür. Die Geschichte war so, wie ich sie erzähle. Vielleicht verstehst du nur nicht die Liebe des Kindes zu seiner Mutter.“ Der Junge schaute erneut ungläubig drein. „Was hättest du denn deiner Mutter in dieser Situation geschenkt?“, fragte der Vater provokant. Der Junge zeigte sich durch die Frage irritiert und bat darum, dass die Geschichte weitergehe. Der Vater fuhr fort:
„Der Vater platzte fast vor Wut,
als er von dem Tausch erfuhr,
dass der Sohn das heilig Gut
für solch profanen Schund verlor.
Ohne Erbstück war kein Segen.
Man verspielte Brot und Gulden.
Die Mutter krankte ihres Mannes wegen
und alle machten Schulden.
Als Ausflucht und als Rachelust
verkauft der Vater trotz Geschrei
als wärs für ihn gar kein Verlust
den eigenen Sohn in Sklaverei.“
„Das ist aber unfair und grausam und selbst dein Versmaß kann das nicht verbergen“, fährt der Junge dem Vater dazwischen. „Wie kann der Vater sowas tun?“ Der Vater zuckte mit den Achseln. „Wer soll denn die Schulden bezahlen? Der Vater war voller Gram und die Mutter war auch nicht mehr in der Lage zu arbeiten. So konnten wenigstens alle weiterleben.“ „Aber liebte der Vater seinen Sohn nicht?“ fragte der Junge. „Weil der Sohn die Familienehre geschändet hat, war es für den Vater leichter, ihn auf diese Weise zu verstoßen. Was würdest du wohl in dieser Situation fühlen?“ Der Junge wurde ganz still und starrte ins Leere. Nach einer Weile fing der Vater wieder an zu erzählen:
„Der Sohn verlebte in der Ferne
harte Jahre ohne Rast und Ruh.
Doch arbeitete er gerne,
er lernte viel und viel im Nu.
Lernte Handwerk, lernte fremde Zungen,
weil er konnte, weil er musste.
War mit Führungsebn‘en fest verschlungen.
Rechnete Gewinn, vermied Verluste.
Nach viel Erfolg und sehr erfahren
und anders als die in Sklaverei,
die von Geburt an Sklaven waren,
kaufte er sich davon frei.
Er zog wieder in sein altes Land,
wo keinem Sklaven je vergönnt,
dass ihm durch die eigne Hand
man ihm mit Recht die Freiheit schenkt.
Bald, geschuldet seinem Können,
eilte ihm sein Ruf voraus
und er bildete, man mags Schicksal nennen,
selber tüchtig Sklaven aus.“
Der Junge öffnete den Mund und machte eine Geste als wolle er etwas sagen, aber hielt inne und ließ es bleiben. Der Vater ließ sich nichts anmerken und fuhr fort:
„Später hat ihn, versklavend wie keinen
die Liebe einer Sklavin gebannt
die geschickt war mit dem Leinen
und auch Stiere zu händeln verstand.,
Der Preis war hoch mit ihr zu schlafen,
doch war die gute Zeit nicht um
und mithilfe vieler Sklaven
schufen sie ein Tuch-Imperium.
Er war streng zu sich und zu den Seinen.
Lehrte grausam ohn‘ Rast und Ruh.
Niemand durfte klagen, weinen.
Forderte Respekt, schürte Hass im Nu.
Die Konkurrenz, das Tuchgewerbe stöhnte
unter solcher Effizienz, derselben bar
und wer aus Tradition sich sicher wähnte,
erlebte nicht das nächste Wirtschaftsjahr.
Manche suchten ahnungslos
andre Länder zu beliefern,
mit schuldenschwer, mit Schulden groß
den Untergang hinauszuzögern.
Die Schulden waren so verhasst,
es nahmen zu Gewalt und Strafen.
Viele trugen nicht die Last
und rebellierten schließlich mit den Sklaven.
Das ganze Land war wie im Rausch.
Die ganze Ordnung war dahin,
solange man so schlecht mit Tausch
und mit Arbeitskraft umging.
Der Mann, der einst der Junge war,
blickte nun vom hohen Berg,
vom Palast-Balkone auf die Schar,
auf sein großes Lebenswerk.
Soviel Leid hat er erlitten.
Soviel Leid gab er zurück.
Er zerstörte alte Sitten
und nahm vielen altes Glück.
Allen galt er als Tyrann.
Allen war er Herr gewesen.
Sei‘s als Gläubiger, als Mann
oder als ein Überwesen.
Es drängten in den Häusergängen
Ob reich, ob arm, ob groß , ob klein,
all die wütend Menschenmengen
und keiner wollt mehr Sklave sein.
Im Palaste am Balkon,
wo da stand der eine Mann,
trat hinzu ein Sklavensohn,
der ihm nach der Kehle sann.
Doch war ihm etwas nicht geheuer.
Die alte Welt versank im Feuer,
das der eine Mann entfachte
und darüber jetzt noch lachte.
Dieser stand und harrte dem Geschick
Und sagte nur, „Komm, Komm, Komm zurück“
Ende.“
Wie aus einer tiefen Konzentrationsphase gerissen, sprang der Junge auf und rief: „Das kann unmöglich das Ende sein. Was ist nun passiert? Was wurde aus dem Mann, dem Sklavensohn, der Rebellion?“ Der Vater wiegte langsam den Kopf hin und her und sprach schließlich: „Wie soll die Geschichte enden?“ Der Junge, sichtlich aufgebracht, versuchte sich zu sammeln: „Wieso soll ich die Geschichte weitererzählen?“. „Es ist eine besondere Geschichte“, antwortete der Vater. „Lass mich dir helfen. Stell dir vor, du wärest der Sklavensohn. Was hättest du getan?“. Der Junge war aufgrund der Frage zuerst verdutzt, aber kurz darauf trat Entschlossenheit in seine Gesichtszüge: „Erschlagen hätte ich ihn. Nie verziehn hätt ich dem Tyrannen!“ „Nun gut“, lächelte der Vater. „Dann will ich dich nicht länger auf die Folter spannen.
Der Mann war tot
durch Sklavenhand,
der Freiheit Not
und Unterpfand.
Fort ist diese Sklaverei
Arbeitskraft muss man jetzt buchen
Es steht nun jedem Sklaven frei
Seinen Herren selbst zu suchen.
Nur wenig Opfer hats gegeben.
Viele konnten weiterleben.
Übrig blieb der Rebellion
nur des einen Mannes Sohn.“
„Wo kommt dieser denn nun her?“, fragte der Junge genervt. „Er war noch klein und drum die Bürde groß und schwer.“, sagte der Vater nachdenklich. „Was hättest du mit ihm getan?“ „Was geht mich der Junge an?“, erwiderte der Junge trotzig. „Doch der guten Sitten wegen, hätt ich ihm ein Dach gegeben. Hätt auf ihn eingewirkt, dass er nicht so wie sein Vater wird.“ Der Vater lächelte und sprach: „Und so war es auch geschehen
So wurd ich um ein Kinde reicher
Nahm’s in meine Obhut auf.
Und wird so wills der Dinge Lauf
Seinem Vater immer gleicher.“
Als der Vater das mitteilte, wurde der Junge immer bleicher im Gesicht. Er wollte etwas sagen, aber es gelang ihm nicht. Er bekam nur einzelne Silben heraus. Die Stimme des Vaters nahm für ihn nun fast einen bedrohlichen Ton an: „Besonders ist sie, die Geschicht. Sie läuft nur selten, wie gedacht, und selten tritt, was in der Nacht
verborgen ist ans Tageslicht.
Ich weiß wie es sich zugetragen.
Ich war Teil der Rebellion!
Ich war einst der Sklavensohn.
Sprich es aus!
Ertragen hilfts das zweifelhafte Glück.
Geh hinein und komm heraus!
Und komm, und komm und komm zurück!“
Seine letzten Worte klangen wie Befehle vor denen der Junge zusammenzuckte.
„Sprich es aus und sprich mir nach!
Es hilft es zu ertragen.
Du, du hast meinen Vater,
meinen Vater tot geschlagen!“
Und der Junge wollt es wagen,
als wär es Trost,
als wär es tröstlich,
es zu sagen,
zugleich erbost,
zugleich verängstigt:
„Du, du hast meinen Vater
Meinen Vater tot geschlagen.“
von Enrico Pfau