Abstand und Vorurteil – Eine Kleine Begriffsgeschichte der sozialen Distanz

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Zu den vielen kollektiv neu gelernten Fachbegriffen in den letzten Monaten zählt, vielleicht alle anderen überragend, der der ‚sozialen Distanz‘.

Es fungiert nicht nur als epidemiologischer Fachbegriff, sondern als Wort, in dem die historisch neue Erfahrung der Corona-Epoche sich abbildet. Das betrifft die ganze Bandbreite an Bedeutungsdimensionen, die dieser Begriff wie ein Kristall in sich enthält: die Isolation, der Verzicht Freunde zu treffen, das Homeoffice. Die praktische Bedeutung, die für uns so schnell zur scheinbar normalen Verwendung des Wortes wurde, ist in einem Zitat aus der Hochphase der Quarantänemonate auf den Punkt gebracht:  „Soziale Distanz ist das einzige wirksame „Medikament“, das uns derzeit zur Verfügung steht.“ So sagte es Dr. Markus Söder, dessen Doktortitel einer der Rechtswissenschaften ist, nicht einer der Medizin. Im Begriff der sozialen Distanz fallen dabei in dessen Geschichte immer schon verschiedene wissenschaftliche Disziplinen zusammen: die uns geläufige medizinische ist eine, daneben treten politische, aber auch soziologische und ethische. 

Wenn man sich die Geschichte des Begriffs einmal ansieht, dann ist dieses Zusammenfallen von verschiedenen Phänomenen Bestandteil seiner Genese. Nur, dass der medizinische Sinn, den man jetzt als erstes assoziiert, keinesfalls der natürliche Ausgangspunkt der Entwicklung gewesen ist, sondern ein sehr spätes Auftreten. Aber der Reihe nach. 

Ursprünglich wurde der Begriff als wissenschaftlicher Terminus in der Soziologie verwandt. In den 1920er Jahren bezeichnete es eine Form von Distanz, die überhaupt nichts mit räumlicher Trennung zu tun haben sollte, sondern ein Gefühl meinte, eine Einstellung, die man zu bestimmten Gruppen einnahm, wobei man sich der einen Gruppe aufgrund bestimmter geteilter Eigenschaften näher fühlte und anderen entfernter. Diese Bedeutung hatte dabei schon von Anfang gerade auch etwas mit rassistischen Einstellungen zu tun, und schon vor dem Einzug des Begriffes in die Wissenschaft meinte der englische Begriff ‚social distance‘ ein Phänomen nach der Auflösung der nordamerikanischen Sklaverei, in der eine formal-rechtliche Gleichstellung weitgehend durchgesetzt schien, gleichwohl aber die verschiedenen Gruppen nicht in den sprichwörtlichen ‚Melting Pot‘ unkenntlich ineinander verschmolzen, sondern, wie in der ebenfalls sprichwörtlichen, wenn auch eerst später so genannten, ‚Salad Bowl‘, in sich weitgehend homogen nebeneinander standen. Es basiert also auf der Zuordnung von Menschen in bestimmte Kategorien, die sich letztlich auf die zugeschriebene Herkunft bezieht, und die damit verbundene Einstellung war eben die social distance. So wurde der Begriff dann vor allem in der Vorurteilsforschung virulent.  

Hier entstand 1930 die bis heute oft zitierte “Bogardus Skala”, die ein Maß dafür angibt, wie viel ‚soziale Distanz‘ man zwischen den Mitgliedern der eigenen Gruppe und einer anderen aufrecht erhalten will. Er fragte dabei, ob man die Mitglieder einer bestimmten Gruppe in einer bestimmten sozialen Nähe akzeptieren würde, von der geteilten Staatsbürgerschaft bis zu der Mitgliedschaft im gleichen Verein oder als direkter Nachbar. Je mehr soziale Distanz vorliegt, desto weniger nah möchte man die Personen einer bestimmten Gruppe in seinem Umfeld haben. Das praktische Ziel der Vorurteilsforschung war dabei aber von Anfang an nicht nur eine deskriptive Beschreibung, sondern eine Verringerung der durch Vorurteile entstehenden und diese dann auch aufrecht erhaltenden sozialen Distanz. Das Ziel steht also in einem diametralen Gegensatz zur aktuellen Bedeutung der sozialen Distanz, deren Ziel gerade die Herstellung dieser ist. 

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Begriff immer noch eine vornehmlich soziale Dimension, die Distanz war also eine gesellschaftliche und emotionale, keine in erster Linie räumliche, auch wenn es im Punkt etwa der Nachbarschaften und Wohnviertel mit dieser schon in einer Korrespondenz stand. Zum ersten Mal geändert hat sich das nicht in der Soziologie, sondern in der Zoologie, namentlich durch die Biologin Hendi Hedeger. Sie benutzte den Begriff der ‚social distance‘ als die auch ganz konkret in Metern angebbare räumliche Entfernung, in der Tiere voneinander entfernt leben können um trotzdem noch zu einer gemeinsamen Gruppe, einer Herde oder einem Rudel etwa, gezählt werden zu können. Der große Unterschied zur gegenwärtigen Bedeutung, so ein Artikel zur Begriffsgeschichte der ‚social distance‘ im Cabinet Magazin, ist, dass Hedeger jene als eine Maßzahl für eine größere Mobilität verstanden wissen will, nun aber verstehen wir letztlich eine, die auf eine Einschränkung von Bewegungsfreiheit zielt. Ein weiteres Problem ist natürlich die letztlich falsche Übertragung eines Begriffes von Menschen zu Tieren. Den gleichen Kategorienfehler feststellen konnte man erst dieses Jahr in der Popularisierung der Forschung von Adam Dolezal von der Univerisät Iowa, der seine Ergebnisse schon mitten in die Corona-Pandemie publizierte. Er erforschte das Verhalten von Honigbienen, wenn diese sich mit einem Virus infizierten und fand heraus, dass sich das Verhalten der infizierten wie der Bienen in ihrem Umfeld auf verschiedene Weise veränderte, so dass sich das Virus in der Population nicht ausbreitet. In den populären Wissenschaftsblogs (nicht in Dolezals Paper im Journal der National Academy of Sciences, in dem der Begriff nicht vorkommt!) wird durch die Verwendung der social distance suggeriert, dass die Honigbienen wie die Menschen aktuell soziale Distanz praktizierten. Das Verhalten der ersten ist aber nicht das Ergebnis einer intentionalen Handlung, schon gar keiner die in ein Gemengenfeld von empirischer Erkenntnis, politischer Deliberation und gesellschaftlicher Debatte fällt. Wer suggeriert, dass Honigbienen wie Menschen im Falle einer Epidemie soziale Distanz üben ist einer Projektion aufgesessen, die wahlweise das Verhalten von Bienen anthropologisiert oder das von Menschen jedem freien Willen und einer Vernunftvermittlung entzieht. Der Apell der Artikel schien zu sein: na seht mal her, wenn selbst die Bienen seit jeher clever genug für social distancing sind, na dann wird das doch für uns Menschen ein Leichtes! 

Ist der Faktor der räumlichen Ferne im Begriff der sozialen Distanz also erstmal in der Zoologie benutzt worden, so wurde er wirkmächtig für das Verständnis für menschliche Beziehungen durch die Psychologie. Hier ist die soziale Distanz besonders durch E.T. Hall bekannt geworden. In seiner Kommunikationsforschung hat Hall erhoben, welche räumliche Distanz Gesprächspartner_innen in verschiedenen Situationen und Beziehungskonstellationen zueinander haben und hat verschiedene Formen von üblicherweise erwarteter Distanz konzipiert. Als vierte Kategorie zwischen der Intimen Distanz (von der Berührung bis zu 60cm Abstand) sowie der persönlichen Distanz (bei normalen Gesprächen, bis 1.50 m) auf der einen Seite und der öffentlichen Distanz (etwa bei Univorträgen, ab 4 m) auf der anderen Seite führt er die ‚soziale Distanz‘ als Abstand etwa bei Kontakten in der begrenzten Öffentlichkeit, zum Beispiel in interpersonellen Begegnungen in Geschäften ein. Diese beginne ab, Achtung!, 1,50 Meter. Da es in den Distanzerwartungen auch kulturelle Unterschiede gibt, also in verschiedenen Ländern eine andere Distanz für höflich oder unhöflich gelte, wird das Konzept heute gern bei Erfahrungsübungen in Vorbereitungskursen für Auslandsaufenthalte genutzt oder auch bei Fortbildungsworkshops für Manager, und die Teilnehmenden in Rollenspielen in die unterschiedliche Distanz eingeübt. Es ist also für viele, auch wenn sie das Konzept nicht mehr unter diesem Namen kennen, eine bekannte Verwendung der sozialen Distanz. Hat das Konzept der 1,50 Meter als ‚soziale Distanz‘ gerade hierüber Eingang in die Epidemiologie, die Debatte und nun auch die konkreten politischen Maßnahme gefunden? Der Verdacht liegt nahe, dass gerade dieses Konzept von ‚sozialer Distanz‘ aufgegriffen wurde. Bloß medizinisch begründet ist gerade dieser Abstand der 1,50 Meter ja letztlich auch nicht, weil die Verbreitung von Aerosolen weiter und vor allem auch anders als streng gleichverteilt in einem Radius verfolgt. 

Eine Verbindung aus Krankheit und den Vorurteilsforschung erhielt eine weitere „Social Distance Scale“, analog zu der von Bogardus, in den 1990er Jahren, diesmal in Bezug auf Aidskranke. Erforschte Bogardus den Grand an Empfinden von sozialer Distanz zu ethnisch oder kulturell unterschiedlich wahrgenommenen Gruppen, so wurden nun die Vorurteile zur Distanz von Aids-Patienten erhoben, und es wurde gefragt in welcher Entfernung man sich wohl fühle – durfte die Person in der gleichen Stadt wohnen, der gleichen Straße, dem gleichen Haus bis hin zum Zimmer oder Körperkontakt herstellen? 

Obwohl der Gegenstandsbereich sich hier auf einen Virus bezog, war es freilich immer noch in einem erweiterten Kontext der Vorurteilsforschung angesiedelt. Den uns heute geläufigen Sinn als „social distancing“ im Fall des Ausbruchs einer Pandemie bekam das Wort dann vermutlich erstmals 2004, und hier im Kontext des damaligen SARS-Virus. Seitdem ist die social distancing als Strategie in den Schubläden der Publikationen und konnte in der aktuellen Pandemie bereits mit einem Fachpublikum rechnen, dass diese Verwendung so verstehen würde. 

Der Begriff erwies sich zur Durchsetzung eines bestimmten Verhaltens nützlich. Er war jedoch etwas zu erfolgreich in seiner eigenen Durchsetzung, denn relativ schnell wurde dann klar, dass der Begriff der sozialen Distanz eigentlich kein sonderlich passender ist. Die Übertragung aus einer sozialpsychologischen und kommunikationstheoretischen Hinsicht führte unweigerlich zu Problemen, weil es zwar als einzig verfügbare metaphorische „Medizin“, im Sinne Söders, freilich um die Herstellung einer gewissen Distanz geht, aber die weitere Bedeutungsdimension, die man sich damit mit einkaufte, aus medizinischer Sicht ungewollt war. 

Und so versuchten viele der Akteure, die das mit dem Wort gemeinte Prinzip gerade noch in der Weltbevölkerung durchsetzen wollten, den Begriff auf sich selbst anzuwenden – also sich selbst davon zu distanzieren. Bereits am 20. März kündigte die WHO in ihren, zu diesem Zeitpunkt täglichen, Pressekonferenzen an, das Wort ‚social distance‘ in Zuunft durch ‚physical distance‘ zu ersetzen, weil diese das intendierte Verhalten besser träfe. Ähnlich formulierte es etwa zeitlich auch der Präsident des Weltärztebundes Frank-Ulrich Montgomery. Später, Ende Mai, stimmte schließlich der Schriftstellerverband PEN in den Chor der Kritiker ein, der seinerseits auf die völlig falsche Konnotation des Wortes verwies, da es angesichts der aktuellen Herausforderungen gerade einer stärkerer Kooperation, nicht einer geringeren, bedürfte. Ähnlich argumentierten Psychologen der Stanford Universität, die statt „Social Distancing“ aus diesem Grund die chiastische Umpolung stark machten und forderten, nun „Distant Socializing“ zu sagen und zu praktizieren. Doch einmal in einer Debatte etabliert lässt sich ein Begriff nur schwer mehr ändern.  

 
Sicher ist, dass wir es mit einem Dilemma zu tun haben. Die „einzig wirksame Medizin“ ist gleichzeitig selbst hochgradig problematisch, sei es für die Entwicklung von Kindern, die einfach Nähe benötigen, sei es für die einzelne Psychologie, da es, wie Ophelia Deroy von der TU München betonte, für viele ein grundsätzliches Bedürfnis gerade in einer Krise ist, sich körperlich noch näher zu sein als sonst. Die historische Krise der Pandemie stellt mit dem Social Distancing eine relativ wirkungsvolle Medizin bereit, die aber selbst die basalsten psychologischen Strategien menschlicher Krisenbewältigung unterbindet. 

Die für den Einzelnen beinahe unmögliche Aufgabe besteht nun darin, sein tägliches eigenes, ziemlich unbedeutendes und irrelevantes Verhalten als Funktion einer Wahrscheinlichkeitsverteilung wahrzunehmen. Dafür benötigt man wieder einer anderen Art von Distanz, eine Distanz nämlich gegenüber einem komplexen und dynamischen Geschehen, dessen Teil man gerade immer auch selbst ist, also eine Art von Distanz, die Bedingung der Möglichkeit jeder Wissenschaft ist. Diese Distanz, letztlich die Distanz der Abstraktion, aufzubauen und vermittels dieser konkrete Konsequenzen der physischen, und, ja, auch der sozialen Distanz zu erringen ist die Persephonearbeit der aktuellen Zeit.

von Ulrich Mathias Gerr

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