“Die Karikatur muss herhalten, um eine Fremdheit zu konstruieren, die nicht existiert” – Interview mit Prof. Dr. Meike Günther

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Dr. Meike Günther ist Autorin des Buchs “Der Feind hat viele Geschlechter. Antisemitische Bilder von Körpern, Intersektionalität und historisch-politische Bildung.”, erschienen 2012 im Metropol Verlag. Sie lehrt an der Katholischen Hochschule Sozialwesen Berlin.

Den Auftaktvortrag der Reihe “Antisemitismus, Sexismus und Geschlecht” hielt Prof. Dr. Meike Günther. Ein Interview über antisemitische Karikaturen. 

In Ihrer 2012 veröffentlichten Dissertation haben Sie sich mit antisemitischen Bildern von Körpern, Intersektionalität und historisch-politischer Bildung befasst. Was hat damals den Anstoß zu dieser Untersuchung gegeben?

Anlass war die Tatsache, das wir mit in der Bildungsarbeit zum Antisemitismus immer wieder mit den Reaktionen der Jugendlichen konfrontiert waren, die die antisemitischen Bilder vor allem deshalb spannend fanden, weil sie sexualisiert waren und mit Vorstellungen von vermeidlich schönen oder gesunden Körpern arbeiten, die sie heute auch noch kennen. Wir hatten den Eindruck, dass es für die Jugendlichen oft schwierig war, die Karikatur vom realen Bild zu unterscheiden und die Normen zu hinterfragen, die auf den Bildern symbolisch dargestellt werden sollten. 

Sie haben für Ihre Arbeit unter anderem im U.S. Holocaust Memorial Museum in Washington und in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem geforscht. Gab es dort Interesse an der Untersuchung von antisemitischen Karikaturen?

Das Memorial Museum in Washington verfügt über eine große Sammlung von Bildern und Karikaturen aus den 20ger -40ger Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland. Neben antisemitischen Karikaturen gibt es auch viele Bilder von queerem Leben in Berlin zum Beispiel, die zeigen, wie offen andere Sexualitäten teilweise gelebt werden konnten. In Yad Vashem geht es nicht nur um das darstellen von Geschichte, sondern auch um ein nationales Narrativ und Trauer-und Erinnerungsarbeit, dort wird die Geschichte des Antisemitismus nochmal völlig anders dargestellt. Beide Museen verfügen auch über große online-Bibliotheken

Was sind die zentralen, immer wiederkehrende Motive in den Karikaturen hinsichtlich der Verbindung von Antisemitismus und Geschlechtskonstruktionen gewesen?

Vor allem geht es den Macher_innen der antisemitischen Karikatur des nationalsozialistischen Lagers darum, eine körperliche Andersartigkeit und auch Widerlichkeit darzustellen über eine als nicht normal geltende Sexualität und Geschlechtlichkeit. Hierfür greifen sie lokal unterschiedliche Diskussionen auf, die zu dieser Zeit existierten und verbinden sie mit alten antisemitischen Stereotypen.

Welche Funktion haben Geschlecht und Sexualität in der antisemitischen Konstruktion von Juden und Jüdinnen?

Die gezeichneten Bilder selbst sind unterschiedlich, je nach Zeit und Ort. Aber die Funktion ist immer diejenige, das tatsächliche körperliche nicht anders sein und Aussehen von Juden und Jüdinnen an ein fiktives doch irgendwie körperliches anders und nicht richtig sein zu binden dadurch. Das große Problem der Antisemit_innen war ja immer, dass Juden und Jüdinnen, die seit Jahrhunderten in Europa beispielsweise leben, eben nicht anders sind und aussehen als alle Menschen drumherum. Sehr viele jüdische Familien haben vollkommen assimiliert gelebt, viele jüdische Männer haben im ersten Weltkrieg gekämpft, in allen Arbeitsbereichen waren auch Juden und Jüdinnen tätig, die teilweise selbst gar nicht mehr viel über ihre jüdische Familiengeschichte nachdachten. Insofern musste die Karikatur herhalten, um eine Fremdheit zu konstruieren, die nicht existiert.

Im Zusammenhang mit der Thematisierung von Karikaturen sprechen Sie von einem Grundproblem in der Bildungsarbeit: Beim Zeigen von Karikaturen werde das aufgeführt, was eigentlich in nicht mehr auftreten sollte. Sollten antisemitische Karikaturen dennoch mit Jugendlichen besprochen werden?

Wenn Karikaturen gezeigt werden, dann aus meiner Sicht immer nur, wenn zunächst eine Karikatur besprochen wird, die die gewollte Norm zeigt. Erst wenn klar ist, auch das Bild des weißen arischen Mannes oder der Frau ist eine Konstruktion, gibt es aus meiner Sicht die Möglichkeit, auch die gezeichnete Abweichung als Konstruktion zu besprechen zu verstehen. Der Fokus sollte auf dem Akt des Diffamierens durch Karikaturen liegen, erst dann kann genauer geschaut werden, was das antisemitische an der Karikatur ist.  

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