Gastbeitrag von Dr. Zeynep Gambetti
Seit Anfang des Jahres gibt es an der Istanbuler Boğaziçi Universität, der Bosporus-Universität, nicht schwächer werdende Proteste gegen die willkürliche und undemokratische Einsetzung des neuen, AKP-treuen Uni Präsidenten Melih BUlu und den damit verbundenen Verlust der akademischen und hochschulpolitischen Autonomie der wohl bekanntesten und liberalsten türkischen Universität.
Mitte März hat der Senat der Carl von Ossietzky Universität ein Statement beschlossen, in dem sie ihre türkische Partneruniversität aufgefordert hat, die akademische Freiheit zu wahren.
Der AStA hat eine Podiumsdiskussion mit Lehrenden und Studierenden der Boğaziçi organisiert. Im Folgenden drucken wir den Redebeitrag der Professorin und Politikwissenschaftlerin Dr. Zeynep Gambetti.
Ich würde die Ereignisse an der Boğaziçi Universität gerne in einen Kontext stellen. Ich würde gerne darüber sprechen, wie über den ganzen Globus verteilt ein Trend existiert, ein weitgehender Trend, in Richtung eines autoritären Populismus. Ich würde diesem Phänomen sogar einen anderen Namen geben, einen härteren Namen, aber für heute Abend, lassen Sie uns über autoritären Populismus sprechen und über den Anti-Intellektualismus, den dieser begleitet. Lassen Sie uns auf die Ereignisse an der Boğaziçi Universität aus dieser Perspektive blicken, weil das, was an der Boğaziçi passiert nicht der erste Fall einer Verletzung der akademischen Autonomie ist und es ist nicht die einzige Verletzung der akademischen Freiheit in der Welt.
Ich würde gerne darüber sprechen, für was Boğaziçi steht, in Hinsicht eines allgemeinen Trends, der Länder umfasst wie Ungarn und Serbien. Es gibt auch Beispiele dafür in Frankreich und vermutlich auch in Deutschland. Ich weiß außerdem von meinen Kollegen in den USA, dass auch die Unis dort nicht vor diesem Trend sicher sind. Wir können den Fall Brasilien nehmen, wo es einen gezielten Angriff auf die Universität gibt.
Ich würde gerne darüber sprechen in dem Rahmen eines allgemeinen Angriffs auf kritisches Denken. Kritisches Denken in den Gender Studies, in den LBGQT Studies, in den Migrationsstudien. In Forschungen, die gegen einen bestimmten nationalen Diskurs gehen, gegen eine Art offizielles Geschichtsnarrativ. Das war der Fall an der Boğaziçi, wo Konferenzen stattfanden zu politisch tabuisierten Themen wie dem Genozid an den Armeniern und der sozialen und politischen Bewegung der Kurden. Diese Themen sind seit Jahren tabuisiert und Akademiker wurden schon verfolgt für den Versuch ihrer unabhängigen Erforschung.
Es gibt einen allgemeinen Backlash des türkischen Establishments seit 2010, begleitet von einem Schlag gegen die Demokratisierung von Forschungsbereichen, gegen die Demokratisierung der Debatte innerhalb der Universitäten, gegen die Demokratisierung der Curricula an den Hochschulen. Boğaziçi war immer schon ein Pionier in der Öffnung eines akademischen und außercurricularen Bereiches für solche Debatten. Das ist der Grund, warum diese Uni so viel Hass auf sich gezogen hat und Widerstand, nicht nur von den konservativen Teilen der Bevölkerungen, sondern auch von den überzeugten republikanischen Kemalisten, die an die Säkularisierung glauben und die überzeugt davon sind, dass diese Säkularisierung, oder besser dieser Laizismus, nur verteidigt werden kann, wenn man eine Idee einer Nation verteidigt, die in einer Harmonie mit einer gereinigten Vergangenheit steht. Eine Vergangenheit, gereinigt von aller Gewalt und allen Formen der Stummschaltung aller Minderheiten.
Boğaziçi ist also innerhalb der türkischen Gesellschaft ein Symbol. Ein Hasssymbol für einige – ein Hoffnungssymbol und ein Ideal, wie eine Universität sein sollte, für andere. Dieser Angriff ist der letzte einer Reihe von Angriffen auf das türkische Universitätssystem, aber wir müssen ihn als einen allgemeinen Trend in der Welt beschreiben, einen allgemeinen Angriff auf Intellektualität und eine allgemeine Entdemokratisierung.
Ich muss berichten, dass in Belgrad, bei Kollegen am Institut für Philosophie und Soziale Theorie, ein staatliches Institut, dass diese sich in einer Situation befanden, in der plötzlich der Präsident des Instituts geändert wurde. Das Institut stand unter Druck seitens der Regierung. Es handelt sich dabei um eine sehr kritische Institution, an der alle Arte von dissidenten und kritischen Forschungen – dissident in einem gewissen Bezugsrahmen – durchgeführt und vollendet werden können. In diesem bestimmten Fall ist der Versuch der Regierung gescheitert und die Kollegen haben glücklicherweise die Autonomie über ihr Institut wiedererlangt.
Aber es gibt das bekannte Beispiel Ungarns, wo die Europäische Universität aus dem Land auswandern musste und ihren Campus nach Wien verlegt hat, weil es eine Hetzkampagne des ungarischen Präsidenten Orban gab, der George Soros, den Gründer und Hauptgeldgeber der Universität, als eine Art Sündenbock benutzt, um die Universität anzugreifen und ihre kosmopolitische und mutige Erforschung von Themen, die die Realpolitik Ungarns verbieten wollte.
Ähnliches passiert gerade in Frankreich. Die Universitäten werden unterfinanziert, obwohl es keine direkte politische Intervention gibt, außer, dass sie attackiert werden. Die Professor_innen in Frankreich sind einer anderen Bedrohung ausgesetzt als in Ungarn oder der Türkei, aber wir können feststellen, dass die Unterfinanzierung der Universitäten, und speziell der Sozial- und Geisteswissenschaften, besorgniserregend ist, ähnliches gilt für die USA.
Oder nehmen wir Bolsanero in Brasilien: er hat die staatlichen, öffentlichen Universitäten geradezu attackiert, weil hier etwa Gender Studies, was für ihn eine degenerierte Ideologie ist, frei unterrichtet werden kann. Man könnte auch noch über andere Beispiele sprechen, wie etwa Indien, wo es unter Modi den Versuch gibt, die Universitäten zu kontrollieren und sie aus den Stadtzentren zu entfernen, so dass die Studierenden bei ihren Protesten gegen die Regierung oder bestimmte Regierungsmaßnahmen nicht mehr sichtbar sind.
Dieser Form der Einschüchterung findet also in vielen Ländern der Welt statt. In der Türkei geschieht es in einer brutalen Art und Weise. Die Türkei ist eine Art Laboratorium, wo bestimmte Maßnahmen getestet werden, in der sichtbarsten Weise, aber ich denke es wäre hilfreich über das, was in Boğaziçi geschieht als ein etwas sichtbareres Beispiel nachzudenken, ein Beispiel eines impliziten Trends in vielen anderen Teilen der Welt.
Die Protestete an der Boğaziçi Universität, nicht nur der Studierenden, sondern seit dem ersten Tag auch der Professor_innen, haben das Establishment überrascht. Das Establishment dachte, dass die Proteste nach ein paar Tagen, höchstens ein paar Wochen, abebben würden. Aber es ist jetzt die sechste Woche und die Proteste gehen weiter. Die Professor_innen hielten jeden einzelnen Nachmittag eine Mahnwache, mit den Rücken gegen das Rektoratsgebäude gewandt. Jedes Mal, wenn die Regierung einen neuen Eingriff in die Universitätsbelange versucht – wenn sie die Polizei auf den Campus lässt, wenn sie Studierende festnimmt, oder wenn sie durch ein Mitternachtsdekret zwei neue Institute gründet, das juristische Institut und ein Kommunikationsinstitut – schreiben die Professor_innen eine Presseerklärung, in der sie kundtun, diese Veränderung nicht zu akzeptieren. Wir werden unsere Prinzipien einer demokratischen Universitätsselbstverwaltung nicht aufgeben! Wir werden akademische Leistungen und unseren hohen wissenschaftlichen Standard nicht aufgeben. Das hat die Regierung aus der Balance gebracht. Der Grund, weswegen das Gewaltniveau zunimmt und es den Social Media Trollen nun erlaubt wird, uns sogar individuell und persönlich anzugreifen, ist, dass wir nicht aufgeben. Wir unterwerfen uns nicht. Wir verhalten und nicht so, wie das Establishment es erwartete.
Nun, das hat einen Preis. Für die Universität, aber vor allem auch für die Studierenden. Es gibt Studenten, die immer noch unter Arrest im Gefängnis stehen. 50 andere sind unter Bewachung der Polizeiwachen. Das hat einen ernsten Preis für die Universität, etwa durch die Schaffung der neuen juristischen Institute. Wir Lehrende haben keine Zeit, uns auf etwas anderes zu konzentrieren. Wir können kaum das aktuelle Semester beenden. Wir stehen vor den Abschlussexamen, doch niemand, nicht die Studierenden, aber auch nicht die Professor_innen, kann sich auf die Arbeit konzentrieren. Überhaupt über akademische Arbeit zu sprechen, wenn solch eine Sache an der Universität passiert! Es gibt keine Aussicht, dass wir uns auf unsere akademische Tätigkeiten fokussieren können.
Doch ich möchte auch eines sagen: Mut ist ansteckend. Mut ist ansteckend! Der Mut der Boğaziçi Universität steckt gewissermaßen andere Universitäten an, die bis jetzt ähnliche Kontrollmechanismen ohne großen Widerstand akzeptiert haben, die sich aber jetzt Fragen darüber neu stellen, wie das Universitätssystem aussehen sollte. Welche Art von Jugend wollen wir bilden? Wie sollte Universitätsbildung sein? Welche Stimme sollten Professor_innen dabei haben, die Regeln und die Selbstverwaltung ihrer eigenen Uni zu bestimmen? Ich denke, das ist gewissermaßen hoffnungsvoll. Ich bin keine pessimistische Person. Ich wurde sehr pessimistisch in diesen sechs Wochen. Es gab Zeiten, an denen ich sagte: es gibt keine Chance, dass wir weitermachen können. Das gesamte Establishment ist gegen uns! Aber es gibt andere Zeiten, vor allem wenn ich mit meinen Studenten Irem und Noyan spreche, muss ich zugeben. Ich habe Mut gewonnen aus ihrem Mut, aus dem Mut der Studenten.
Es geht darum, die Solidarität hoch zu halten, die Moral zu wahren und nicht aufzugeben. Nicht den beiden Taktiken nachzugeben, die ich in der Welt beobachtet habe, um demokratische Kräfte aus der Bahn zu werfen. Eine dieser Taktiken ist Grenzenlosigkeit. Die Politische Herrschaft akzeptiert nicht länger rechtliche Grenzen, normative Grenzen. Die Grenzen des common sense, nicht einmal religiöse Grenzen. Und natürlich: was hier im Namen der Religion aufgeführt wird ist nicht Religion selbst. Das ist eine Taktik. Wenn man am Morgen aufwacht und man herausfindet, dass es seit Mitternacht zwei neue Institute an der Universität gibt. Natürlich wird man aus der Bahn geworfen, denn man erwartet solch eine Maßnahme nicht. Das geht über den common sense hinaus. Die zweite Taktik ist, die Gesellschaft zu mobilisieren und immer wieder zu überraschen in einem Kreislauf ewiger Veränderung. Permanent neue Maßnahmen, permanent neue Taktiken. Die Permanente Maßnahme ist das, was Hannah Arendt auch in ihrem Opus Magnum, der totalitären Herrschaft, analysiert hat. Mit der Herrschaft mitzuhalten, damit, was die Herrschaft macht, ist sehr schwer, wissend, dass wir keine anderen Macht haben als unseren Körper und die Energie unsere Körpers und unseres Geistes.
Aber ich glaube auch, dass Solidarität das ist, was uns davon abhält, demoralisiert zu werden und von der totalen Zerstreuung. Ich möchte mit einer hoffnungsvollen Note enden. Lasst uns über unsere gemeinsamen Probleme sprechen, nicht nur an der Boğaziçi Universität, sondern über unsere gemeinsamen Probleme. Lasst uns durch das Beispiel der Boğaziçi sprechen, wie wir die Solidarität unter uns kritischen Akademiker_innen der ganzen Welt vergrößern können!
von Zeynep Gambetti, Professor an der Bogazici Universität Oldenburg
Übersetzung ins Deutsche: Ulrich Mathias Gerr