Interview zur Inszenierung ‚Sterben‘ von Saskia Kaufmann und Raban Witt.
Anlässlich einer Hommage für Christoph Schlingensief fand im Oktober die Inszenierung „Sterben in Oberhausen“ statt. In diesen Stücken werden echte Trauerfeiern abgehalten – für lebende Personen. Ende April wurden diese unter dem Titel „Sterben“ in hybrider Form im Hamburger Kampnagel und online noch einmal leicht verändert aufgeführt. Die Weltbühne traf die beiden Regisseur_innen Saskia Kaufmann und Raban Witt zu einem Gespräch über den Umgang mit und die Ästhetik von Trauer, Tod und Ritualen.
Die Idee für das Stück ist ja vermutlich schon vor der Pandemie entstanden. Wie war das für euch, dass dann mitten in eure Arbeit ein historisches Ereignis fiel, dass mit dem Thema eures Stückes sehr viel zu tun hat?
Saskia Kaufmann (SK): Erstmal ist man ja, abgesehen vom Thema, mit Produktionsbedingungen beschäftigt und fragt sich so: kann man überhaupt künstlerisch arbeiten und was zeigen? Und als klar wurde, dass wir spielen können, hab ich schon Angst bekommen, dass das zu so einer Zeit niemand sehen will.
Raban Witt (RW): Ich habe das eher als Bestärkung empfunden, dass das Thema auf einmal so präsent war. Der Raum, um sich damit auseinanderzusetzen, fehlt ja nur umso mehr.
Die Trauerinszenierung folgt einer sehr strengen Ritualisierung. Hinsichtlich der konkreten Rituale habt ihr euch verschiedenen religiösen und kulturellen Trauerpraktiken beeinflussen lassen. Wie seid ihr dabei vorgegangen?
RW: Wir haben alle zum Thema ‚weltweite Trauerriten‘ recherchiert, und mit ‚wir‘ meine ich wirklich das ganze Ensemble. Und eine Beobachtung war, dass sich in verschiedenen Religionen und verschiedenen kulturellen Kontexten Vieles ähnelt und wiederholt sich. Unsere Trauerfeier ist auf jeden Fall stärker auf der ekstatischen Seite als ich es sonst von einem christlichen Kontext hierzulande kenne. Eine wichtige Inspirationsquelle waren professionelle Trauernde. Das gibt es in verschiedenen Weltgegenden: Leute, deren Job es ist, die Katharsis für die Trauergemeinde zu übernehmen und quasi für sie zu wehklagen und weinen.
SK: Wir sind ja beide nicht religiös, und eigentlich sogar sehr betont nicht religiös. Wir verbringen privat eher viel Zeit damit, Kulte und Esoterik auseinanderzunehmen. Jetzt haben wir aber etwas gemacht, was fast eine Sektenästhetik hat. Ich würde behaupten, wir machen das mit wenig ideologischen Partikeln. Aber in jedem Fall braucht es solche Rituale! Das ist eine Leerstelle, die ich als nichtreligiös lebender Mensch oft empfinde, wie man gerade solche Markierungen im Leben, solche Übergänge, eigentlich feiern soll. Das war auch ein wichtiger Ausgangspunkt für unsere Ästhetik, denn für uns war dann ja wichtig, wie alles aussehen soll. Woraus schöpfen? Wir haben uns entschieden, uns ästhetisch an „Vaporwave“ zu orientieren, was mit Melancholie zu tun hat, aber auch ein globales Phänomen ist.
Rituale haben ja auch selbst schon etwas Theatralisches an sich, gleichzeitig bezieht eure Arbeit ja daraus ihre Wirkung, dass es authentische Trauer ist, weil die Personen nicht ausgedacht sind. Dadurch entsteht die seltsame Wirkung, dass es zugleich das fiktivste überhaupt ist – so zu tun, als betrauere man das Sterben eines Menschen, von dem man weiß, dass er noch lebt – und etwas sehr Intimes und Authentisches. Sind das die Pole der Inszenierung – Fiktion und Authentizität?
RW: Nunja, wir spielen nicht, dass jemand tot ist, sondern wir trauern darum, dass jemand in Zukunft sterben wird. Das ist ja auch nunmal so, egal wer sich dahin setzt. Aber diese beiden Pole gibt es. Wir inszenieren es, auch mit Theatermitteln, aber es ist auch etwas, dass wir ernst meinen. Wir machen wirklich ein Ritual, dass es bislang nicht gibt, ein Ritual in dem Menschen darum trauern, dass sie später sterben werden, dass sie sterblich sind.
Lasst uns auf Aspekte der Ästhetik der Inszenierung zu sprechen kommen. Es war ein sehr symmetrischer Aufbau, mit einer Art Altar im Mittelpunkt. Hatte diese sehr reduzierte und sehr geordnete Architektur den Zweck, einen Gegenpol für den letztlich für euch ja nicht vorhersehbaren Zufall der einzelnen Zeremonien darzustellen?
RW: Zunächst muss man sagen, dass wir zwar überall mit drinhängen, aber am Ende ist es auch eine Kooperation von Künstler_innen, die eine Eigenständigkeit in ihrer Arbeit haben. Die Bühne hat Anthoula Bourna gemacht, der Text und die Reden schreibt Sean Keller. Die Bühne ist stark von Vaporwave inspiriert, was Saskia schon erwähnt hat. Das ist ein ästhetisches Internetphänomen, wo es sehr stark um Retrofuturismus geht, was eine Art von Melancholie macht, eine Melancholie, die mit Technik verbunden ist.
SK: Es gibt ja das bekannte Windows 95 Meme, auf das alle abgehen.
Ich musste eher an 70er-Jahre Science Fiction denken, eine gewisse Kubrick-Ästhetik konnte ich auch feststellen.
SK: Vaporwave greift genau das auch wieder auf. Es gibt einen Retrofuturismus. Viele Kritiken haben etwas in der Richtung „Raumschiff-Enterprise-Sekte“ geschrieben. Es hat diesen Future-Aspekt. Wir haben manchmal scherzhaft gesagt, wir sind vielleicht die Gruppe aus der Zukunft, die es geschafft hat, Rituale zu etablieren, ohne einen ideologischen Schmarn zu machen.
RW: Aus einer Zukunft, in der die Menschen vielleicht in der Lage sind, besser mit ihrer Sterblichkeit umzugehen. Denn, und das wäre jetzt einmal eine hausgemachte Theorie: eigentlich kann man sich mit der eigenen Sterblichkeit im Kapitalismus nur sehr schwer beschäftigen. Aus der Tatsache, dass man sterben muss, kann man hier im Grunde nur zwei zwei Schlüsse ziehen. Man kann sagen, man soll alle Zeit, die man hat, sinnvoll nutzen – ‚Nutze den Tag‘. Oder man kann sagen, es ist alles sinnlos, weil eh alles endet, und dann sagt man: ‚Verschwende deine Zeit‘. Eigentlich geht aber beides nicht. Du kannst den Tag nicht nutzen, weil deine Zeit dir nicht selber gehört, weil du deine Arbeitskraft zu Markte tragen musst. Auf der anderen Seite kannst du deine Zeit nicht verschwenden, weil Verschwendung und Exzess die Form von Freizeit annehmen und nur zu einem Mittel werden, am Montag wieder fit zu sein, um dann schön weiter arbeiten zu können. Deswegen geht beides nicht. Das ist ein wichtiger Grund, warum es im Kapitalismus besonders schwer ist, sich mit Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Das ist natürlich immer eine harte Sache, das würde es auch in einer besseren Gesellschaft bleiben. Aber ich glaube schon, dass es uns in den Bedingungen, in der wir leben, besonders schwerfällt, uns damit zu konfrontieren.
In unserer Inszenierung geben wir den Leuten natürlich nicht vor, was sie für Schlüsse aus den Erfahrungen zu ziehen haben, das gehört auch zur Kunst, dass man es den Leuten nicht so vorgeben kann. Was wir aufmachen, ist eine Zäsur. Die Leute können auf ihr Leben gucken, wie es bisher war, und sehen, ob sie es gut finden, was sie bisher gemacht haben. Man kann sich aber auch die grundsätzliche Frage daraus stellen: wie sind die Bedingungen für mein Leben? Kann ich sinnvoll leben? Kann ich meine Zeit so verbringen, dass ich sagen würde, dass es sinnvoll ist?
Geht die Überlegung in die Richtung des bekannten Satz Adornos, »Ohne die Vorstellung eines fessellosen, vom Tod befreiten Lebens kann der Gedanke der Utopie nicht gedacht werden.«?
RW: Ich kann mit diesem Satz inzwischen weniger anfangen als früher. Es ist eigentlich andersrum: Die Idee, dass man um den Tod herumkommen könnte, dass er bloß ein technisches Problem ist und keine ewige Naturnotwendigkeit, ist Ideologie. Die Vertreter_innen des Transhumanismus glauben das ja wirklich: Wenn man nur genug Organe austauscht, dann wird man irgendwann ewig leben können.
Die Utopie Adornos hat sich gewandelt zum Machbarkeitswahn?
RW: Ja, es ist ein Machbarkeitswahn. Eine Omnipotenzfantasie, gleichzeitig aber auch nur eine andere Art von Verdrängung.
Ihr habt schon angesprochen habt, dass ihr versucht habt, euch möglichst unideologisch dem Thema der Trauerfeier annehmen zu wollen. An einer Stelle gibt es aber doch die Tendenz einer ideologischen Verklärung. Es gibt, wenn ich die Stelle richtig verstanden habe, eine Darstellung des Moments des Sterbens und letztlich des Todes. Wenn man dieses überhaupt inszenieren will, dann ist dieser Versuch vor die Verlegenheit gestellt, dass man Bilder finden muss für den Tod, der sich als alles Materielle schlechthin transzendierendes Phänomen kategorial der Bebilderung entzieht. Wie seid ihr auf eure Darstellung gekommen?
SK: Es tut mir leid, wenn das bei dir so angekommen ist. Es ist aber nicht so, dass man sich vorstellen soll, dass die Person stirbt. Es ist die Person selbst, die das tun soll, und dafür wird sie fünf Minuten allein gelassen. Das ist natürlich auch eine unmögliche Aufgabe, eher eine Art Meditation über etwas, was man sich nicht vorstellen kann. Unsere Auffassung zum Teil, den das Publikum erlebt, war nicht unbedingt eine Bebilderung. Wir hatten ganz faktisch das Problem, dass wir die Person fünf Minuten alleine lassen müssen. Wir wollten auch nicht, dass wir diese dann irgendwie dabei beobachtet, wie sie es sich vorstellt, das wäre ja irgendwie komisch. Man hätte auch eine Pause machen können. Aber wir fanden es auch gut, eine Art Verbindung herzustellen zu der Person, die es sich gerade vorstellt. Deshalb hört man auch jeweils einen Tonschnipsel, wo der oder die Betrauerte beschreibt, wie sie sich den eigenen Tod vorstellt.
RW: Das ist eine Stelle, bei der man auch an die Grenzen dessen kommt, was man so ganz erklären kann. Auch im Entstehungsprozess. Man kann intellektuell dazu Verschiedenes sagen, aber es ist auch eine intuitive Entscheidung. Was wir da gebaut haben, das Video von Philip Hohenwarter, ist auf eine Weise schon ein Todesbild, das stimmt. Die Naturbilder erinnern eben ans „wieder ganz zur Natur werden“. Und das ist irgendwie tröstlich dargestellt und friedlich. Gleichzeitig ist es auch etwas Fiktives, weil es eine animierte 3D-Ebene ist. Und diese Fiktion wird am Schluss infrage gestellt: Die Kamera fährt plötzlich durch den Boden, man sieht das Gitternetz, das das 3D-Modell strukturiert. Was man vorher gesehen hat, ist vielleicht nicht, wie der Tod ist, sondern wie man ihn sich gerne vorstellen will.
Es erinnert ein wenig an eine bekannte Szene aus dem Film Soylent Green, in dessen dystopischer Zukunft es einen institutionalisiertes Euthansieprogramm gibt, beim Freitod kommt dann ein ähnliches Video.
RW: Das haben wir schon öfter gehört.
SK: Ja, wir sollten endlich einmal diesen Film schauen. Ich hatte auch die Angst, dass es so rüberkommt, als ob wir den Tod verschönern und damit romantisieren. Es ist auch sehr stark davon abhängig, was die Leute im Interview dazu gesagt haben.
RW: Klar, wenn dann etwas Sinnstiftendes kommt, ist es seltsam. Wir geben da die Kontrolle ab. Sie sagen was sie sagen.
SK: Es hat aber auch etwas Trauriges, diese Naturwelt, in der keine Menschen sind.
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Ich habe mir gestern nach der sehr eindringlichen Vorstellung und auch der positiven Stimmung bei den anderen Teilnehmern die Frage gestellt, ob euer Konzept nicht tatsächlich für viele Menschen auch jenseits des Theatersettings ein Ritual wäre, in dem sie sich viele wiederfinden. Habt ihr darüber schon einmal nachgedacht, das vielleicht auch einmal zu versuchen an andere Gruppen und Kontexte heranzutragen?
SK: Es passiert ja schon Einiges. Zum Beispiel gibt es immer mehr alternative Bestatter_innen, die sich mit neuen Wegen des Trauerns auseinandersetzen, die mit Angehörigen auch neue Rituale erfinden, die zu ihnen passen. Dadurch, dass Religion in der Bedeutung immer mehr abnimmt, bekommt das einen riesigen Schub, gerade in urbanen Räumen. Was wir machen, empfinden wir auch als echtes Ritual, sich mit seiner Sterblichkeit auseinandersetzen. Und ja, wir glauben und hoffen, dass es für die Betrauerten einen nachträglichen Impact hat. In Oberhausen hatten wir ein sehr berührendes Gespräch mit einer Hospizmitarbeiterin, die fast täglich letzte Gespräche mit Sterbenden führt. Fast alle sagen dann: „ach, hätte ich doch nur das oder jenes gemacht! Ich blicke zurück auf mein Leben und frage mich, wieso ich diese Priorität so gesetzt habe und mich da so verhalten habe.“ Der utopische Gedanke daran ist: was ist, wenn man nicht bis zuletzt darauf warten müsste, sondern diesen Moment jetzt schon zu provozieren, durch diese Vorstellung, mich zu befragen, was ich anders machen würde.
RW: Ich glaube, dass es bei den meisten Menschen am Lebensende darum geht, ihre Beziehungen zu befragen – was habe ich mit diesen oder jenen Menschen erlebt oder nicht erlebt, wie habe ich meine Beziehungen gepflegt. Alles andere tritt im Moment des Sterbens vielleicht dahinter zurück. Vielleicht kann einem das auch eine Lehre fürs Leben sein, so lange man es noch hat. Auch wenn ich persönlich über mich und meine bisherige Geschichte nachdenke, dann stelle ich fest, ich bin sehr damit beschäftigt an einer Karriere zu basteln und das besetzt viel von meinem Headspace, aber die Zeit geht weiter und die Jahre gehen vorbei. Und was manchmal zu kurz kommt ist genau das, Freundschaften pflegen und Beziehungen pflegen.
Dass ihr dieses Element der Beziehungen so betont ist einerseits nachvollziehbar, andererseits gerade bei euch durchaus erstaunlich. Denn es gibt bei Ritualen und insbesondere Trauerfeiern ja auch das sinnliche und das ästhetische Moment. Dass ihr jetzt im Kampnagel Theater in einem dezidiert sehr hohen Raum spielt, der darin ja einem sakralen Raum zu ähneln scheint, ist doch zum Beispiel nicht unwichtig für die spezifische Erfahrung der Trauer.
SK: Klar, das ist superwichtig. Wie bei einem Ritual ist es so, dass wir den Rahmen setzen und die Leute diesen unterschiedlich befüllen.
RW: Eine Sache finde ich noch interessant, und das ist auch für mich selbst ein unbequemes Thema. Saskia hat ja schon angesprochen, dass wir mit ästhetischen Versatzstücken arbeiten, die an Sekten erinnern. Und das ist etwas, für das wir uns entscheiden. Man muss ja selbst dann, wenn man sich etwas ausdenkt, auf etwas zugreifen, es gibt immer ein Material. Und zumindest für unsere Ästhetik ist dieses Material letzten Endes religiös oder esoterisch. Auch wenn wir das inhaltlich möglichst draußen halten. Vielleicht ist das Problem an Religion auch weniger die Ästhetik, denn die ist teilweise ja auch wirklich ganz gut, sondern wie diese inhaltlich bespielt wird. Es gab in Oberhausen eine Kritik an unserem Stück, einen richtigen Verriss, das war aber fast unser liebster Text: Jemand hat geschrieben, dass es in dem Stück wie in einer pudrigen Vorhölle wäre und die Rituale wie in einer evangelikalen Kirche. Das stimmt zwar nicht so richtig, aber ich fand es trotzdem in der bösen Absicht auch ein Kompliment. Deren Kirchen sehen jedenfalls besser aus als eine typische protestantische Kirche.
SK: Evangelikale Kirchen sehen aber auch nicht aus wie unsere Inszenierung. Ich denke er hat einfach irgendwas mit Technik gesehen und dann „Amerika“ gerufen. Das war vielleicht der ganze Impuls.
Öffentliche Trauerfeiern werden uns in der kommenden Zeit wohl einige begegnen. Frank Walter Steinmeier hat bereits einen öffentlichen Trauertrag für die Covid-Toten geplant. Diesem werden sicher noch weitere öffentliche Trauerzeremonien folgen. Was erwartet ihr, wie diese Trauerfeiern inszeniert werden und was würdet ihr aus der Erfahrung eures Stückes sagen, wie könnte eine solche Trauerfeier stattdessen auch gestaltet sein?
RW: Gut, was man erwarten kann ist eine nationalistische Shitshow. Es ist zu erwarten, dass diese globale Katastrophe dafür missbraucht wird, einen nationalen Zusammenhalt zu beschwören, am Ende die deutsche Schicksalsgemeinschaft.
SK: Wovor ich am meisten Angst habe ist, dass uns in zwanzig bis fünfzwanzig Jahren ZDF-Fernsehfilme bevorstehen, in denen das nochmal verarbeitet wird. Ich weiß auch schon genau wie es aussehen wird. Moritz Bleibtreu wird in der Pandemie zu seiner Frau fahren müssen, die Krankenschwester ist, und er wird es nicht können weil dann die Ausgangssperre ist. Oder Alexandra Maria Lara ist schwanger. Oder Daniel Brühl spielt Christian Drosten, der am Fenster steht und raucht und traurig ist, dass niemand auf ihn hört. Davor habe ich Angst.
Ich glaube du bist etwas optimistisch wie lange es dauernd wird bis solche Filme kommen. Es gibt ja schon einen Lockdown-Thriller von Michael Bay.
SK:Ja stimmt schon, ich hatte jetzt den „Goodbye Lenin“-Abstand gewählt. Aber in zwanzig Jahren sind es dann Komödien.
RW: Corona-Komödien (lacht). Abgesehen davon, dass es wahrscheinlich missbraucht werden würde, ist es schon notwendig. Ich merke bei mir, dass es für mich eine unheimlich abstrakte Sache ist. Ich lese diese Todeszahlen und finde sie beängstigend, aber es bleibt eine Zahl. Ich kann es nicht wirklich realisieren. Ich kann es dann auch nicht so richtig verarbeiten. Es ist außerdem auch eine globale, kollektive Erfahrung.
SK: Wir erfahren nicht kollektiv den Tod, sondern wir erfahren kollektiv, dass wir zuhause alleine hängen.
RW: Aber wir erfahren kollektiv die Angst vor dem Tod, vor dem eigenen Tod und vor dem der Leute, die einem wichtig sind.
SK: Diese Vorstellung „jetzt sind eh alle mit dem Tod konfrontiert“ – nein, ich glaube das nicht. Wenn man nicht konkret gerade einen Angehörigen hat oder selbst stark gefährdet ist, dann beschäftigt man sich überhaupt nicht mit dem Thema Sterblichkeit. Ich finde es geradezu absurd, wenn man Interviews auf der Straße sieht, von den Querdenkern etwa, und dann sieht man da 60jährige Männer, am besten noch mit einer Zigarette, die sagen, dass sie sich total gesund fühlen und dass es ihnen nichts anhaben kann. Man denkt sich: ok, ich hoffe für dich ja dass du recht hast, aber das ist statistisch sehr unwahrscheinlich und nur weil es sich in dem Moment nicht so anfühlt sagen sie dann sowas. Das ist wie satt einkaufen zu gehen und zu denken „oh, ich werde nie wieder Hunger haben, ich brauche nichts“. Die Phantasie der eigenen Unverwundbarkeit müssen viele für sich aufrecht erhalten. Das ist die Triebfeder für sehr viel Idiotie.
Ich schätze man kann nicht über einen solch langen Zeitraum – über ein Jahr bereits – andauernd im Bewußtsein des Todes leben. Gerade unter den Bedingungen, die Raban Witt schon angesprochen hat: weiter arbeiten gehen zu müssen und die Arbeitsraft zu reproduzieren.
SK: Man muss es verdrängen, das stimmt schon. Ich glaube aber auch, dass Menschen so funktionieren, dass solche Zahlen relativ wenig mit ihnen machen.
RW: Wir sind ja auch in einer irrsinnigen Situation, was es unmöglich macht, es zu kapieren. Die Arbeit läuft mehr oder weniger weiter und alles weitere ist eingeschränkt. Das erzeugt im Erleben eine merkwürdige Verdoppelung. Man hat den Eindruck es ist sauernst im Privaten – aber so ernst dann auch wieder nicht, denn man kann einfach weiter zur Arbeit fahren.
SK: Man sieht ja, wie ausgelagert das Thema Tod und Sterben ist. Ich hatte zum Glück niemanden in meinem Umfeld, der daran gestorben ist. Ich habe nie jemanden gesehen, der keine Luft bekommen hat, ich habe keine Leichen gesehen. Man funktioniert da häufig wie ein Kleinkind: ich habe es nicht selbst gesehen, also ist es auch nicht wahr.
RW: Wenn man es immer an sich ranlässt ist man nicht lebensfähig. Es ist aber eine andere Frage, ob man grundsätzlich anerkennt, dass es so ist, und überhaupt sich seine Verletzlichkeit eingesteht. Wenn man die Beschäftigung mit der eigenen Sterblichkeit völlig von sich weghält, entsteht dabei sicher jede Menge Müll.
Interview von Ulrich Mathias Gerr
Fotos: Patrick Sobottka