Psychosoziale Beratung Interview

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„ich würde mir wünschen, dass wir es individuell und auch als Gesellschaft schaffen, nicht in Angst, Aggression, Verdrängung und Verleugnung zu versinken“
Interview mit Wilfried Schumann von der Psychosozialen Beratungsstelle des Studentenwerks Oldenburg

Womit wenden sich derzeit die meisten Studierenden an Sie?

Wir beobachten, dass bei vielen Studierenden die Resilienz-Vorräte erschöpft sind. Nach einer langen Zeit der Kontaktbeschränkungen und aufgrund der Ungewissheit, wie lange diese Situation noch andauern wird, fühlen sie sich zermürbt und erschöpft. Ihre Strategien, das Ganze für sich positiv zu wenden, funktionieren nicht mehr. Dementsprechend haben wir viele Anfragen wegen Motivationsverlust, Arbeitsstörungen, vor allem aber auch wegen des Erlebens von Isolation und Einsamkeit. 

Laut einer Umfrage in Würzburg erwarteten 60 Prozent der Studierenden dort psychische Probleme durch die Pandemie. Halten Sie diese Zahlen auch für Oldenburg realistisch? 

Ich kann nicht ausschließen, dass in einer solchen Umfrage auch in Oldenburg hohe Werte erzielt würden. Was auf jeden Fall feststeht: bei vielen Studierenden, die schon vor der Pandemie an Ängsten, Depressionen und Kontaktproblemen litten, haben sich diese Probleme aktuell verstärkt, und andere Studierende, die unter normalen Bedingungen gut klar kamen, haben in der Corona-Krise psychische Symptomatiken entwickelt.

In dem nun seit vielen Monaten dauernden Lockdown kann vermutlich keiner behaupten es geht ihm oder ihr so gut wie sonst auch. Wie erkenne ich, ab wann ich mich mit meinen Sorgen und Verstimmungen an eine professionelle Hilfe wenden sollte?

Wenn ich feststelle, dass ich aus eigener Kraft oder mithilfe von Freunden und Familie es nicht schaffe, eine schlechte Phase oder eine akute Krise zu überwinden oder wenn psychisches Unwohlsein meine Lebensqualität über mehrere Wochen deutlich beeinträchtigt, dann ist es sicher sinnvoll, sich um professionelle Hilfe zu kümmern.

Viele Studierende sind momentan häufig isoliert. Wie könnte man ihnen, zum Beispiel auch von Seiten von Kommilitonen oder Fachschaften, geholfen werden? Haben hier Ihrer Einschätzung nach auch Lehrende eine proaktive Verantwortung?

Die Isolation, die viele Studierende erleben, ist eine enorme Belastung für die Psyche. Deshalb sollten wir immer im Blick haben, wie wichtig es ist, Studierenden in der Situation des digitalen Studiums möglichst viele Möglichkeiten zu eröffnen, sich miteinander zu vernetzen und in Tandems oder Kleingruppen gemeinsam zu arbeiten. Wir bieten hierzu beispielsweise speeddatings an, bei denen man seinen Studdy-Buddy suchen kann. Ich freue mich sehr darüber, wie viele Beteiligte in den Fachschaften und in der Lehre kreative Ideen entwickelt haben, um im Studium und in der Freizeit Begegnungen zu ermöglichen. Lehrveranstaltungen und Tutorien sollten deshalb nicht nur als Orte gesehen werden, wo es um Wissensvermittlung geht, sondern diese Situationen sollten so gestaltet werden, dass Studierende sich gesehen fühlen und es auch Raum dafür gibt, die individuellen Erfahrungen mit dem Studieren unter Corona-Bedingungen zu äußern und auszutauschen.

Aus Lernpsychologischer Sicht fällt es manch einem Studierenden schwerer sich aufs Lernen zu konzentrieren, weil die Ablenkungen im eigenen Haushalt so groß sind und es häufig keine extern vorgegebene Struktur gibt. Gibt es etwas, dass man gegen diese Probleme machen kann?

Die wichtigsten Punkte sind: morgens möglichst früh starten, sich einen störungsfreien Arbeitsplatz einrichten, Freizeit und Arbeitszeit klar voneinander abgrenzen, Pausen mit Bewegung und Rausgehen gestalten, mit dem Beginn des Feierabends den Arbeitsplatz unsichtbar machen. Sehr motivierend und disziplinierend ist der Effekt des Zusammenarbeitens mit Kommiliton_innen in einem virtuellen Großraumbüro, in dem man sich per Video-Schaltung mit einander verbindet und den Tag gemeinsam gestaltet. 

Wir sind nun im dritten „Coronasemster“. Für manchen fühlt es sich an, als würde es sich gar nicht mehr ändern. Gibt es Strategien, mit denen man gegen diese gefühlte Perspektivlosigkeit angehen kann?

Kontakte zu anderen intensivieren, viel rausgehen und sich in der Natur aufhalten, die Sinne schärfen für das, was gerade im Moment geschieht. Sich klarmachen, was man aus dieser Krisenerfahrung für sich persönlich gelernt hat und was daraus die Konsequenzen sein sollen für die Zeit nach Corona. 


Es gibt Universitäten, die jetzt auch über Corona hinaus eine deutlich größere Verlegung ins Digitale planen. Worauf wäre hierauf aus psychologischer Sicht zu achten, wenn man bedenkt, dass dies die schon angesprochenen sozialen und lernpsychologischen Probleme mit sich bringen kann?  

Es gibt einen starken Wunsch bei den meisten Studierenden und Lehrenden, wieder das bunte Leben auf dem Campus zu aktivieren, das sich durch digitale Medien nicht ersetzen lässt. Nur auf dem Campus gibt es die persönliche Begegnung und den lebhaften Austausch in der Gemeinschaft, das ist nicht zu toppen. Deshalb habe ich keine Befürchtung, dass der Campus ausgedient hat. Aber natürlich ist es auch sinnvoll, dort digitale Mittel weiter vorzuhalten, wo sie sich bewährt haben und einen Zugewinn ermöglichen. Für den Bereich der Beratung haben wir in diesem Kontext gelernt, dass die Beratung in Präsenz weiterhin der Goldstandard bleibt, dass wir aber für Studierende, die nicht vor Ort sind, zukünftig auch auf digitalem Weg gute Beratung durchführen können.


Erwarten Sie auch über Corona hinweg so eine Art „LongCovid“ für psychische Probleme? Gibt es etwas, dass Sie sich diesbezüglich für die Zeit nach Corona besonders wünschen würden bzw. für nötig halten würden?

Bestimmt wird es nach der Pandemie psychische Langzeitwirkungen geben. Keine Krise seit den Weltkriegen hat eine so starke Verunsicherung in unser Leben gebracht. Eine solche Erfahrung brennt sich in die Psyche ein und verändert unsere Wahrnehmung. Das Vertrauen in die Welt und die Planbarkeit der Zukunft ist massiv erschüttert, zumal auch die nächste globale Krise in Gestalt unübersehbarer Klimaveränderungen bedrohliche Ausmaße entwickelt. Dies ist psychologisch eine enorme Herausforderung und ich würde mir wünschen, dass wir es individuell und auch als Gesellschaft schaffen, nicht in Angst, Aggression, Verdrängung und Verleugnung zu versinken, sondern uns mit Verstand, Willenskraft und solidarischem Handeln an die Aufgabe machen, die Lebensmöglichkeiten auf diesem Planeten auch für zukünftige Generationen zu bewahren.

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