Ausführliches Gespräch mit Prof. Dr. Rudolf Leiprecht über seine Entscheidung nicht mehr länger an der Uni zu bleiben, über problematische Entwicklungen an der Uni und über seinen neuen Film, in dem es um die Aufarbeitung der eigenen Familienvergangenheit geht.
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Transkript der Episode
‚Lange Schatten des Schweigens‘ – Interview über den neuen Film des Oldenburger Pädagogikprofessors Dr. Rudolf Leiprecht
Sie haben eine Reihe von Filmen gedreht, in Ihrer niederländischen Heimat wie in Deutschland. Die Filme waren inhaltlich an Ihren Arbeitsschwerpunkt in der Pädagogik, in der es um Rassismus und Migration geht, orientiert. Wie sehen Sie die Verbindung der Filme zu Ihrer wissenschaftlichen Praxis? Die Filme haben auch das Ziel, in der pädagogischen Arbeit eingesetzt zu werden, richtig?
Ein Dokumentarfilm ist für mich ein anderes Medium, eines mit dem ich die Themen, die ich in der Forschung bearbeite, zum anschaulichen ‚Sprechen‘ bringen kann. Das Produkt ist eben nicht nur als Buch oder Text in der Bibliothek oder in der wissenschaftlichen Community verortet, sondern eines, dass in die Welt hinaus geht und Adressat_innen oft viel direkter erreicht. Damit werden Menschen einbezogen, für die diese Debatte wichtig ist. Mit der Visualisierung und Veröffentlichung sind aber auch stets ethische Fragen verbunden: In meinen Filmen geht es oft um Jugendliche, das heißt, ich muss auch mit deren Eltern sprechen. In Büchern kann bzw. muss anonymisiert werden, im Film erfolgt dagegen eine Art öffentlicher Positionierung. Jugendliche müssen gleichzeitig davor geschützt werden, leichtfertig einzuwilligen, so gefilmt zu werden. Darin steckt auch ein längerer forschungsethischer Prozess, der die Instrumentalisierung der Beteiligten verhindert. Zusammenarbeit bedeutet, Menschen eine Stimme zu geben, die gehört wird. Wenn dann die Beteiligten – die Jugendlichen selber, die Eltern, die Kolleg_innen der Jugendarbeit – einen guten Eindruck davon haben, wenn sie merken, dass es gehen kann, erst dann wird der Film gemacht. Den Jugendlichen wird immer wieder zurückgespiegelt: „Guck mal, das werden wir aus dem Interview zeigen, wir werden es so und so zusammenschneiden. Was denkst Du dazu?“ Auch dieser Reflexionsprozess gehört zu den Forschungsergebnissen: Von den Jugendlichen, die sich plötzlich zu einem Thema selbst sprechen hören, kommen Rückmeldungen, über die wir dann gemeinsam reflektieren, was sie da eigentlich sagen, und ob sie es wirklich so meinen und warum. Das ist eine wichtige Ebene der Forschung in diesem Prozess. Wenn der Film fertig ist, dann gehe ich wieder zurück in die adressierte Gruppe der Forschung und zeige das Ergebnis; daraus ergibt sich oft nochmal eine ganz andere Debatte über die Forschungsergebnisse, die fehlt, wenn ich sie nur in einem wissenschaftlichen Buch oder in einem Fachartikel veröffentliche. Es geht um einen kommunikativen Prozess in der Forschung. Am Ende steht dann ein Film, der in der Bildungsarbeit eingesetzt werden kann. So habe ich jahrelang – seit 1988 – an und mit meinen Forschungsprojekten gearbeitet. Ich habe das große Glück mit dem niederländischen Filmemacher Erik Willems befreundet zu sein. Die Arbeit an den gemeinsamen Filmen kommt uns entgegen, die Freude, wochenlang zusammen zu sitzen, daran zu arbeiten, das macht sehr viel Spaß. Bislang ging es in den Filmen meistens, um Jugendliche oder um Studierende und Studiengänge. In dem aktuellen Projekt geht es zum ersten Mal ganz direkt um mich selbst, um meine Familiengeschichte. Wahrscheinlich hat das auch etwas mit meinem Alter zu tun, mit dem Punkt in meiner Biographie, an dem ich stehe. Das fühlt sich schon nochmal anders an.
Der neue Film, „Lange Schatten des Schweigens. Eine verbotene Liebe im Zweiten Weltkrieg und danach“ hat im Juli Premiere, ich habe ihn selbst daher noch nicht gesehen, vielleicht können Sie kurz schildern, worum genau es gehen wird.
Es gab viele Verzögerungen wegen Corona. Wir mussten während der Aufnahmen nach Auschwitz fahren, und nicht immer konnten wir aufgrund der Corona-Regeln so reisen, wie wir wollten. Das hat alles viel länger gedauert als wir es einmal gedacht haben. Worum geht es? Im Grunde geht es darum, dass meine Mutter, 16 Jahre alt, in den Niederlanden in Rotterdam während der deutschen Besatzung 1944 sich in einen deutschen Besatzungssoldaten verliebt – meinen Vater. Er war damals als Matrose auf einem Minenräumboot. Erst spät in seinem Leben hat er erzählt, dass er nicht nur Minen geräumt, sondern auch Minen gelegt hat, vor der englischen Küste. Meine Mutter hat er beim Kennenlernen für älter gehalten. Mein Vater war begeistert, sie war ein junges Mädchen, das dann auch sehr schnell schwanger wurde mit meinem Bruder. Meine Mutter kommt aus einer jüdischen Familie, was mein Vater nicht wusste, was jedoch hochriskant für sie wurde, obwohl sie sich darüber wohl kaum Gedanken machte. Man muss wissen, dass in der Familie meiner Mutter 1942 schon über vierzig Familienangehörige in Auschwitz ermordet worden sind. Die Familie war durch diese katastrophale Gewalt also schon sehr reduziert. Ihr Vater, mein Opa, hatte das große Glück, dass er mit einer katholischen Frau verheiratet war. Jüdische Partner in ‚gemischten‘ Ehen waren in den besetzten Niederlanden zunächst noch vor der unmittelbaren Verfolgung geschützt. Gleichzeitig hatte die deutsche Besatzung aber bereits die Perspektive: ‚Am Ende werden wir sie alle vernichten‘. Aber es gab die Befürchtung, man könne die niederländische Bevölkerung nicht auf seine Seite ziehen, wenn mit einer solchen Verfolgung der niederländisch-christlichen Teil sich auch noch gegen sie auflehnen würde. Teilweise zeigen sich in der rassistisch-nationalistischen Logik sogar Ähnlichkeiten zu Putin, wenn er sagt: Die Ukrainer und Ukrainerinnen sind doch eigentlich ein Teil unserer ‚Rasse‘ – so haben die Nazis verkündet, dass die Niederländerinnen und Niederländer doch eigentlich Teil der arischen und nordischen ‚Rasse‘ und damit auch Teil des deutschen Reichs seien; eine Art inkludierender, imperialer Rassismus, der sich hier zeigte. Deswegen aus strategischen Gründen die Zurückhaltung vor sogenannten ‚gemischten‘ Ehen, die dennoch mit dem Endziel der Vernichtung aller Jüdinnen und Juden verbunden war.
Für meine Eltern war die Liebe groß und sie hielt auch in Süddeutschland, wo schließlich mein Bruder zur Welt kam. Diese Ehe konnte aber letztlich nur weitergehen, indem alle diese Ereignisse verschwiegen wurden. Wenn man sich die Diskursverhältnisse in der süddeutschen Kleinstadt nach dem Krieg ansieht, dann gab es für meine Mutter keine andere Möglichkeit. Nazis kamen wieder zurück in ihre alten Positionen, der Bäcker war wieder der Bäcker, der Sparkassenmitarbeiter der Sparkassenmitarbeiter. Alle sind wieder in ihren alten Positionen. Sie hatte, zumal als ‚Ausländerin‘, nicht die Möglichkeit zu sagen: Übrigens, ich komme aus einer jüdischen Familie und Euer Land hat die meisten Mitglieder unserer Familie ermordet, warum sitzt ihr jetzt wieder da, was habt ihr damals gemacht, wie war ihr beteiligt, wo ist Eure Verantwortung? Ein öffentlicher Diskurs, der dies möglich gemacht hätte, fehlte in den 1950er Jahren völlig. So gab es für sie nur die Flucht ins Schweigen und es entstand ein Tabu, das sehr lange angehalten hat. Ich wusste zwar immer, dass da irgendwas mit der deutsch-niederländischen Geschichte war, und ich wurde als Kind, wenn ich bei meinen Großeltern in den Niederlanden war, von anderen Kindern vom Spielen ausgeschlossen, weil mein Vater Deutscher ist. Dass meine Familie jüdisch war, das habe ich jedoch erst im Alter von 36 Jahren erfahren – mehr oder weniger zufällig. Dann fing meine Forschung über meine Familienverhältnisse an. Über jahrelange Archivarbeit habe ich dann Vieles erfahren, über das meine Eltern – sowohl meine Mutter wie mein Vater – wollten oder konnten nicht mit mir darüber sprechen; sie hatten wirklich eine Blockade, darüber zu reden. Vermutlich spielt auch hier der Effekt eine Rolle, dass dann, wenn man Kindern in jungen Jahren die gleiche Lüge immer wieder erzählt hat, die erzählte Geschichte irgendwann nicht mehr geändert werden kann. Man kann seinem Kind mit 36 Jahren nicht plötzlich etwas ganz Anderes erzählen. Wenn ich meine Mutter gefragt habe, dann ist sie immer ausgewichen.
Wie haben Sie dann über Ihren jüdischen Hintergrund erfahren, wenn nicht über den Weg Ihrer Eltern?
Damals ist meine Großmutter aus Rotterdam gestorben. Ich bin teilweise in Rotterdam bei meinen Großeltern aufgewachsen. Ich habe mich dann um die Unterlagen gekümmert und ich habe eine jüdische Sterbeversicherung gefunden. Ich habe dann meinen Vater angerufen und ihm gesagt, wir hätten eine jüdische Lebens- und Sterbeversicherung, warum eigentlich? Dann sagte mein Vater am Telefon: „Weil Dein Großvater jüdisch war, wusstest Du das nicht?“ Damit fing es an. Dieses nicht erzählen und nicht erzählen können in meiner Familie, dass meine Eltern darauf angewiesen waren, dieses ‚Geheimnis‘ niemandem verraten zu können, das hat meine Mutter ‚verrückt‘ gemacht. Sie ist manisch-depressiv geworden, obwohl ich mir in der Diagnose da nicht so ganz sicher bin. Sie wurde jedenfalls auch gewalttätig und sehr, sehr depressiv, sehr traurig. Als Kind musste ich leider mehrere Selbstmordversuche miterleben und vor ihrer Aggressivität hat mich mein Bruder gerettet. Meine Mutter war wie ein Vulkan, der jederzeit ausbrechen konnte. Als Kind fühlte ich mich dann auch noch selbst schuldig: „Was habe ich falsch gemacht?“ Biographisch ist es interessant, dass ich Sozialpädagoge geworden bin, mit einer solchen familiären Gewaltgeschichte. Meine Forschung zu bestimmten Themen erklärte mir gewissermaßen, woher die Gewalt meiner Mutter kam. Letztlich ist es auch die Gewalt des Nationalsozialismus, die sich darin zeigt. Es ist dies natürlich komplizierter und komplexer, aber für den Sohn einer solchen Mutter, für mich, war es eine Erleichterung, das herauszufinden und die Hintergründe der Geschichte, der Nichtverarbeitung, des Schweigens, der Gewalt zu erfahren. Dadurch bekam ich auch nochmal ein anderes Verhältnis zu meiner mittlerweile gestorbenen Mutter.
Wie war der filmische Umgang mit Ihrer eigenen Geschichte?
Eine gute Bekannte von meinem Freund Erik – Steffi van der Oord – ist Historikerin und Biographie-Forscherin. Sie wollte ein Buch schreiben, das sich mit unmöglichen bzw. ‚verbotenen‘ Liebesbeziehungen während des Zweiten Weltkriegs beschäftigt. Sie suchte nach Interviewpartnerinnen und Erik sagte zu mir, erzähl das doch Deinen Eltern, das ist doch eine gute Gelegenheit. Mein Vater war damals schon achtzig, meine Mutter Mitte siebzig. Sie haben dann tatsächlich mit der Forscherin aus den Niederlanden, die auch gut deutsch konnte, ein sehr langes Interview gemacht und aufgenommen – obwohl sie mit uns, ihren eigenen Kindern nicht darüber reden wollten. Wir haben nun das Tonmaterial und mit diesem Tonmaterial konnten wir sehr viel machen. In diesem Interview sagt die Interviewerin einmal: „Wenn sie jetzt mit mir sprechen, und mir dazu erzählen, dann können sie das doch so auch Ihrem Sohn erzählen?” Dann antwortet meine Mutter: „Nein, das geht nicht. Ich kann es Ihnen erzählen, gerade weil ich Sie nicht kenne. Ich kann es meinem Sohn nicht erzählen. Ich kann ihn nicht anschauen und dabei dies erzählen. Aber ich hoffe, dass er das Interview liest.“
Sie sind im Rahmen der Dreharbeiten auch nach Auschwitz gefahren sind. Kann man es sich so vorstellen, dass Sie diese Tondokumente einspielen und dazu bestimmte Aufnahmen von diesem Besuch zeigen?
Wir zeigen im Grunde auch meine Recherche – wie ich durch die Archive gehe, wie ich herausfinde, wer noch zur Familie gehört. Was ist mit denen passiert? Wo sind sie gelandet? Was ist mit ihnen in Auschwitz passiert? Aus welchen Lebenswelten kamen die Menschen? Wie hat meine Mutter, wie haben meine Eltern, darüber gesprochen? Also die ganze alltägliche Verstricktheit in die kriegerischen und rassistisch-antisemitischen Gewaltverhältnisse, in denen ein junges Mädchen Abenteuer und Liebe will, aber gleichzeitig merkt, dass die Lage sehr bedrohlich und unheimlich ist. Vieles wurde ihr aber auch nicht richtig erzählt, denn meine Großeltern wollten sie auch schützen. Sie sollte als ihr einziges Kind nicht mit den Bedrohlichkeiten und Gräueltaten konfrontiert werden. Sie wusste, dass ihr Opa nicht mehr da ist, aber sie wusste nicht so ganz genau, was Auschwitz ist. Sie wusste, dass Menschen abgeholt wurden, auch in ihrer eigenen Straße, Menschen, auch aus ihrer Familie. Irgendwie wusste sie es, aber den Karl, meinen Vater, den hat sie geliebt. Sie hatte Glück. Mein Vater kam aus einer sozialdemokratischen Familie und war Soldat, aber er war nicht begeisterter Nationalsozialist, im Gegenteil. Aber er war Soldat und er gehörte natürlich zu den Besatzern.
Sie hatten erwähnt, dass Sie die Recherche vorher schon für sich gemacht haben. Jetzt haben Sie einen Film dazu gemacht und gehen damit in die Öffentlichkeit. Ich vermute, Sie wollen über diese sehr persönliche Arbeit gleichzeitig doch etwas Allgemeines zeigen? Was ist Ihre Hoffnung, was Sie mit dem Film an Debatten begleiten oder gar auslösen können?
Ich hoffe, dass es ein Film wird, den man in der Erinnerungspädagogik für Jugendliche in der Lebensphase, in der meine Mutter damals war, benutzen kann, der zu Interesse, zu Nachfragen, zur Involviertheit führt. Liebesbeziehungen, die solche Grenzen überwinden, sind ja eigentlich etwas sehr Positives. Und ich würde nicht existieren, wenn es eine solche Liebe nicht gegeben hätte. Heute würden wir beim Thema ‚Verbotene Liebe‘ natürlich viel eher über andere Formen sprechen, vielleicht auch über Lieben über nationalstaatliche Grenzen – aber doch viel mehr auch über lesbische Liebe, über queere Liebe. Die gab es damals auch, aber als Thema, das noch viel stärker als heute tabuisiert und mit Repressionen besetzt war. Die Liebe meiner Eltern ist eine heterosexuelle Liebe gewesen. Trotzdem steckt das grenzüberschreitende Moment darin – der Impuls, sich nicht davon abbringen zu lassen, durch die Grenzen, mit denen am konfrontiert wird. Das klingt ziemlich romantisch und naiv, aber eigentlich ist es etwas Positives, das auch junge Menschen interessieren könnte. Gleichzeitig können wir in dem Film deutlich machen: Wenn Du dich grenzüberschreitend verliebst, dann solltest Du nicht naiv sein, sondern Du musst Dich mit dem, was die Grenzen bedeuten, schon auseinandersetzen. Meine Mutter war politisch völlig naiv, und es ist schon erstaunlich, dass sie nicht in einem Konzentrationslager gelandet ist. Sie empfand gar nicht als politisch, was damals passierte. Die Folgen davon haben wir in dem Film darstellen können.
Ein Effekt, den man mit dem Film erwarten könnte, gerade wenn Sie die konkrete Arbeit in Archiven zeigen, wäre vermutlich, dass sich der ein oder andere fragen könnte: „Okay, und wie ist es eigentlich bei mir?“ Wenn man sich die Forschung ansieht, dann ist dieses Schweigen – auch wenn es familiär und vom Hintergrund zu Ihrer Erfahrung unterschieden ist – ja bei einer großen Mehrheit sehr ausgeprägt gewesen. Man kann allemal nicht davon ausgehen, dass die Berichte von den eigenen Familienangehörigen ganz der Wahrheit entsprechen müssen – das müssen ja nicht immer glatte Lügen gewesen sein, es kommt ja auch zu Verdrängungen und eigenen Verklärungen. Das würde jedenfalls auch erklären, dass bekannten Umfragen zufolge eine große Mehrheit glaubt, dass die eigene Familie im Widerstand gegen die Nazis gewesen ist, obwohl es nur für einen minimalen Teil zutrifft. Wenn das so ist, dann wäre es immer noch die Aufgabe für viele das zu machen, was sie auch in ihrem Film darstellen – Recherchen anzustellen und Archivarbeit über die Vergangenheit der eigenen Familie. Glauben Sie, dass Ihr Film einen solchen Aufforderungseffekt haben könnte?
Ja, es geht um das Sprechen und Reflektieren von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu solchen Konstellationen des Schweigens und des Tabus. Es geht dann natürlich auch um das Nachdenken darüber, wie ist es in meinen jeweils eigenen Familienverhältnissen gewesen ist. Dies nicht nur in Bezug auf das Jüdische oder Nicht-Jüdische, in Bezug auf den Antisemitismus, sondern in einem breiten Sinn in Bezug auf das, was die Nazis das Vergehen der ‚Rassen‘-Schande nannten. Sie haben die Archivarbeit erwähnt. Ich hatte Situationen im Archiv, da saß ich vor den Archivräumen, draußen, und war in Tränen aufgelöst. Ich dachte bei mir: „Jetzt gehe ich nicht mehr rein.“ Ich hielt es nicht aus. In den Archiven schlägt man eine Seite auf und sucht den Familienzusammenhang. Ich habe das minutiös recherchiert. Dann merkte ich, da ist immer noch jemand, den ich verloren habe, als Familienangehörigen, den ich nie gekannt habe. Schon wieder jemand, 1942, in Auschwitz. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass ich mit meiner Spürarbeit immer wieder bei 1942 in Deutschland lande und dies nachzeichne. Ich bin dabei in einer sehr privilegierten Situation: Mir passiert nichts. Trotzdem brachte mich das völlig außer Fassung. Das war keine einfache Geschichte, aber ich hatte auch den immer größer werdenden Impuls – es musste einfach sein.
Ein Name lässt einen das realisieren, was man abstrakt schon weiß – eine Bewegung vom abstrakten zum konkreten?
Ja, ein Film macht es anschaulicher. Da stecken natürlich auch Gefahren drin. Ich hoffe, dass wir es gut hinbekommen haben. Das weiß man erst, wenn der Film genutzt wird, wenn er angeschaut wird und es Reaktionen gibt, ob er wirklich funktioniert. Es kann auch schief gehen.
Wo Sie Gefahren in der persönlichen Medialisierung des NS ansprechen: Es gab ja gerade ein großes Projekt, in dem die Geschichte von Sophie Scholl auf Instagram nacherzählt wurde, mit Fotos und Videos wurde ihrer Studienzeit bis zu ihrer Verhaftung nacherzählt. Das Format kam gut an, aber das dahintersteckende Prinzip einer Identifikation kann eine große Gefahr sein. Wie sehen Sie als Pädagoge solche Versuche?
Na ja, es wäre vermutlich besser, neben dem zweifellos wichtigen und zu würdigenden Widerstand einer Nicht-Jüdin auch den in der Öffentlichkeit leider kaum wahrgenommenen Widerstand von Jüdinnen und Juden zu thematisieren. Zudem gibt es eben viele Positionen in der Gesellschaft des Nationalsozialismus, die wir uns anschauen sollten, Täter_innen, Mitläufer_innen, Zuschauende, Opfer, usw., wobei unter den Opfern neben Juden und Jüdinnen auch Roma und Sinti sind, Homosexuelle, Menschen mit Beinträchtigungen, Fremdarbeiter_innen usw. Zudem glaube ich, dass ein Problem bei solchen Formaten sein kann, dass Menschen dazu neigen, zu romantisieren und perfekte Heldinnen und Helden zu suchen und zu konstruieren. Das gilt auch für Widerständiges im Verhältnis zum Nationalsozialismus. Das Leben ist aber komplexer und widersprüchlicher: Es gibt eben nicht nur Gut und Böse. Es gibt Momente, in denen Mut, schnelles Handeln und Solidarität gefragt sind, aber auch andere Momente, in denen das Gegenteil passiert, also Wegschauen, Angst, Schweigen, zu langes Zögern, die Suche nach dem eigenen Vorteil, vielleicht sogar Verrat. Leider findet sich das ‚im Kopf‘ eines konkreten Menschen aber oft zusammen. Wenn wir romantisierend perfekte Heldinnen und Helden konstruieren, dann ist das von unseren eigenen Gefühlen, Gedanken und Handlungen oft weit entfernt. Die Lücke zu den Niederungen unseres eigenen ‚kleinen‘ Alltags wird zu groß, und vor allem befassen wir uns nicht mit solchen als negativ wahrgenommenen Emotionen, Gedanken und Handlungen, die wir gerade wegheroisiert haben. Dabei kommt es doch gerade auch auf eine ehrliche Auseinandersetzung an. Auch gegenüber uns selbst und vor allem mit und vor anderen, die wir ja als Bündnispartner_innen brauchen. Zudem ist es wichtig, die eigenen Handlungsmöglichkeiten wahr- und ernstzunehmen, dabei zu sehen, dass wir uns in Widersprüchen und Ambivalenzen bewegen, vieles nicht ideal ist, wir Fehler machen und unzulänglich sind, eben keine perfekten Heldinnen und Helden. Wir gehen kleine Schritte, der Weg ist weit, – das zunächst Kleine und unscheinbar Aussehende kann dabei aber sehr wichtig sein. Wir sollten weniger heroisieren, und vermutlich war und ist dies ja auch bei denjenigen so, die jetzt als Heldinnen und Helden konstruiert werden. Da fällt mir eine Geschichte ein, die Studierende, die sich mit grenzüberschreitender Liebe beschäftigt haben, in ihrer Recherche gefunden haben: Eine Jüdin wird versteckt, einer derjenigen, der bei diesem Versteck hilft, bekommt es mit der Angst zu tun. Er ruft bei der Gestapo an und verrät die untertauchte Jüdin. Es passiert aber nichts. Später stellt sich heraus, dass die Sekretärin, die den Anruf entgegengenommen hat, vergaß, diese Information weiterzugeben. Wir wissen nicht, weshalb dies passiert ist und was vielleicht die Motive der Sekretärin waren. Aber allein das Nachdenken darüber: Wenn es sich um etwas Widerständiges gehandelt hat, wäre das Interessante daran doch auch das Wichtige und Kleine dieser Vergesslichkeit, die zudem für die Sekretärin nicht mal besonders risikoreich war. Sie musste keine Heldin sein. Gleichzeitig hat diese ‚Kleinigkeit‘ auf Seiten der Sekretärin der versteckten Jüdin in diesem Moment das Leben gerettet.
Kennen Sie Beispiele von Büchern oder Filmen, in denen dieses Vermittlungsverhältnis gelungen ist?
Ein Freund von mir, Lutz van Dijk, ist Jugendbuchautor. Er ist auch ein Deutsch-Niederländer, der in Südafrika lebt. Er macht aus realen Biographien Romane. Das großartige an Romanen ist ja, dass wir die innere Welt sehen, den inneren Reflektionen eines Menschen folgen und auch das Widersprüchliche wahrnehmen können. Ein Roman erzielt diese Innensicht. Lutz van Dijk hat zum Beispiel die Geschichte eines polnischen Mannes gefunden, der sich während der Besatzung Polens durch die Nationalsozialisten in einen jungen deutschen Soldaten verliebt hat. Eine homosexuelle Liebe, die in diesem Sinne mehrfach grenzüberschreitend war. Lutz van Dijk hat also diesen Mann gefunden und mehrere Interviews mit ihm gemacht. Dieser Mann hatte später auch die Möglichkeit, seine eigene Lebensgeschichte zu erzählen und er hat ein eigenes Buch veröffentlicht. Lutz van Dijk verarbeitet diese Biographie in einem Jugendroman – also mit eigenen Zusätzen und Erfindungen, die er als plausibel aus der Zeit heraus gedacht rekonstruiert hat, die nicht genau so stattgefunden haben, aber so hätten stattfinden können. Das ist ein sehr gelungenes Jugendbuch. Es heißt „Verdammt starke Liebe“. Es gibt also schon Vorbilder für meinen Film, die sich mit der Komplexität und Widersprüchlichkeit von Lebenssituationen und mit konkreten Menschen beschäftigen.
Der Film erscheint im Sommer und wird in Oldenburg uraufgeführt. Gibt es darüber hinaus weitere Pläne für den Film?
Erst einmal mache ich damit eine Reihe von Veranstaltungen. Das wird in Frankfurt sein, wo ich lebe, das wird in Rotterdam sein, im Stadtarchiv, mit dem wir sehr zusammengearbeitet haben. Es wird in Bad Waldsee in Süddeutschland eine Aufführung geben, auch mit Schulklassen, auf deren Reaktionen ich gespannt bin. Es ist geplant, zu dem Film auch ein Handbuch zu machen. Abhängig von den Reaktionen kann es passieren, dass ich merke, ah, das ist ein Punkt, auf den hätte ich mehr eingehen müssen. Daraus sollen auch Informationen erwachsen – wenn man damit arbeiten will, sollte man es so und so machen. Hier geht es ja nicht um einen Film, der mal im Fernsehen oder im Kino läuft, sondern es ist Filmmaterial, dass man besprechen und diskutieren muss.
Haben Sie lange darüber nachgedacht, ob Sie den Film überhaupt machen wollen? Ich könnte mir vorstellen, dass wenn man eine so persönliche Geschichte öffentlich macht, dass es dann auch Erwägungen gibt, wo man denkt: soll ich das wirklich machen? Mache ich mich damit angreifbar oder ist es emotional zu belastend?
Dass ich mich angreifbar mache, war keine Überlegung, aber die emotionale Belastung schon. Ich habe diese Familienforschung ja lange nebenher gemacht, aber bei meinem letzten Forschungssemester – ein Privileg, dass ich als Professor hatte – bekam ich den Freiraum, den ich brauchte. Diese Forschung neben der üblichen Arbeit zu machen, ist schwierig, auch weil es Perioden gab, wo es mir nicht so gut damit ging. Für mich selber war und ist es immer wieder ein emotional belastender Prozess. Ich bin meiner Partnerin sehr dankbar, dass sie mich bei der kritischen Selbstreflektion unterstützt und intensiv begleitet hat. Das braucht man, alleine ist es schwierig. Dass ich ein Filmteam habe, auf das ich vertrauen kann, ist ein Geschenk. Ich hätte es mit niemand anderen machen können.
Der Film „Lange Schatten des Schweigens. Eine verbotene Liebe im Zweiten Weltkrieg und danach“ läuft am 18. Juli im Cinek exklusiv für Studierende und feiert am 19. Juli im Casablanca offizielle Premiere.
Interview: Ulrich Mathias Gerr