Die Geburt der Verschwörungstheorie

03.-Coverinlay-des-Prodigy-Albums-Music-for-a-jilted-generation

Die Geburt der Nuller-Verschwörungstheorie aus dem Geist der Neunziger Popkultur

Dass die Welt unterschieden sei zwischen „red piller“ und „blue piller“ ist eine der weit verbreiteten Verschwörungstheorien in den üblichen Verschwörungstheorie-Aggregatoren im Internet – in einem gleichnamigen Subreddit und in Memes bei 4chan und 8chan und der dort geborenen Incel-Kultur. Das Bild kommt bekanntermaßen aus einer Szene des Film „The Matrix“, in der der Filmmentor Morpheus den Protagonisten Neo aus seiner Gefangenschaft in der Matrix befreit – indem er ihn durch die Pille ‚erweckt‘. Der Film ist sicher klüger als die aus ihm stammende Verschwörungstheorie, selbst in der hier in Frage stehenden Szene heißt es:

„Nimm die blaue Pille — die Geschichte endet, du wachst in deinem Bett auf und glaubst was du auch immer glauben willst. Nimm die rote Pille — du bleibst hier im Wunderland und ich werde dir zeigen wie tief das Kaninchenloch reicht.“

Wer also ‚Erwacht‘ bleibt gerade deswegen in der ‚Matrix‘. Diese Ambiguität, mit der der Film durchgängig spielt, ist denjenigen, die sich darauf berufen, offenbar egal.  Auch wenn er also klüger ist als ein Verschwörungsfilm zu sein, so bedient er dennoch eine gewisse Logik, die sich als anknüpfungsfähig erwiesen hat: es gibt gute und böse Mächte, diese bösen Mächte, die auch mit Staat und Polizei identifiziert werden, belügen uns und lullen uns ein, in eine Scheinwelt, in der wir nur „Batterien“ sind. Und „Erwache“, das war wohl stets der Losungsruf der Verschwörungsmystiker. „Wake up, sheeple“ ist nur die aktuelle Form dieser Parole. Dass ausgerechnet ein Motiv aus diesem Film, dessen Autorinnen und Regisseure, die Wachowski-Geschwister, sich ohne Zweifel als liberal und links verstehen, als prominente Stimmen von Transrechten, zu einer Stärkung des vornehmlich rechten Verschwörungsdenkens der Incels führte, gehört zu Erscheinungsformen in der Gegenwart, die so keiner beabsichtigte und vorhersah, die man sich jetzt im Rückblick aber erklären muss.

Als der erste Teil der Matrix-Trilogie 1999 im Kino anlief wurde er beworben als der ‚erste Film des neuen Jahrtausends‘.  Das hier enthaltene Verschwörungsdenken war der populäre Mythos dieser Tage, auf dem die verschiedenen Theorien, die sich wenig später um den elften September 2001 rankten, bereits anschließen konnten. The Matrix beschloss also die Neunziger und damit gleichzeitig ein Jahrzehnt, in dem die Popkultur dem Verschwörungsdenken schamlos fröhnte. In gewisser Weise fingen die Neunziger popkulturell mit der Serie Twin Peaks an, die diese Struktur bereits andeutete: „die Eulen sind nicht was sie scheinen“, hieß es da kryptisch. Es ist auch das erste Beispiel einer in Onlinecommunities breit diskutierten Stoffe, damals noch in Form der Intranetdiskussionsgruppen im Usenet, Gruppen, wie sie heute für die Verbreitung von Verschwörungstheorien zentral sind

Der inoffizielle Nachfolger von Twin Peaks war eine der beliebtesten Serien der 90er Jahre: Akte X (1993-1999). Akte X popularisierte das Schlagworte all jener, die von einer Regierungsverschwörung ausgehen, ‚The truth is out there‘, doch es Bedarf der Nerds und Geeks um es aufzudecken. Doch es waren nicht nur Serien, die Verschwörungstheorie war ominpräsent: im Rap und im Techno, den entscheidenden musikalischen Genres des Jahrzehnts (und wohl auch der Gegenwart). Public Enemy erhoben die Verschwörungstheorie zum bestimmenden Stoff ihrer Texte. Dass besonders Deutschrap eine populistische Strategie verfolgt, argumentierte zuletzt der Publizist Jens Balzer in seinem Buch ‚Pop und Populismus‘: man provoziert und überschreitet gezielt Grenzen, gibt es Kritik war aber alles nicht so ernst gemeint, gleichwohl man sich fortwährend als authentisch geriert. Mit einer Authentizität, die man dauernd betonen muss, kann es freilich nicht weit her sein. Der frühe Techno seinerseits stützte sich auf die Theorie der ‚Techno Rebels‘ des Soziologen Alvin Toeffler, der eine genuine Figur voraussah, die sich der je neusten Technik auf subversive Weise gegen Staat und Konzerne bediente. Im Plattencover des Prodigy-Albums ‚Music for the Jilted Generation‘ (1994) ist diese Ästhetik auf den Punkt gebracht: auf der einen Seite eines Abgrunds der Techno Rebel, der sich mit anderen in Verbundenheit mit der Umwelt zusammenschließt, das Urbild des Raves, und auf der anderen Seite die düstere Industrie. Die Folgen des Konsums der ‚Red Pill‘ wurde im zweiten Teil von The Matrix wohl auch nicht zufällig als ein großer Rave inszeniert. 

Diese Kultur der Rebellen, der Authentizität und der Abgrenzung gegen die böse Moderne war der Boden, auf dem sich die Verschwörungstheorien im 21. Jahrhundert ausbreiteten, auf dem sich Subversion in reaktionäre Esoterik verwandelte, in der noch alles, was vom vermeintlich bösen Establishment abgrenzte, gefeiert wurde. Noch wenn die Ärzte Impfungen empfehlen gilt es als Beweis ihrer Beteiligung an kontrollierender Verschwörung. Dass ein ‚Erwachen‘ zu einer solchen Position gerade nichts als eine Illusion ist, in der man sich seine Umwelt falsch deutet, das ist die Doppeldeutigkeit des Zitats aus The Matrix, jenem Film, der die 90er und 00er verbindet, eine Doppeldeutigkeit, von dem seine maskulinistischen Adepten nichts mehr wissen wollen. Im blauen Schimmer ihres Smartphonebildschirmes erkennen sie nicht, dass die Farbe ihrer eigenen Pillen nie rot gewesen war, sondern immer schon braun. 

von Justus Mercur | Photo: Coverinlay des Prodigy Albums Music for a jilted generation

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