2. November 2022 | 19:00 – 21:00
In den letzten Jahrzehnten haben die enormen Fortschritte in der Erforschung des menschlichen Gehirns ein Menschenbild gezeichnet, das dem der Aufklärung diametral widerspricht. Über die Erkenntnisse der naturgesetzlichen Funktionen unseres Gehirns werden die Existenz eines freien Willens, die Möglichkeit der Emanzipation und Selbstbestimmung und die moralische Schuldfähigkeit des Menschen in Frage gestellt. Damit gerät die Hirnforschung nicht nur in Widerspruch zu fundamentalen Grundsätzen demokratischer Gesellschaft, sondern stellt auch die Freiheit und Möglichkeit von Wissenschaft in Zweifel. Zugleich werden mit dem Präfix „Neuro-“ geisteswissenschaftliche Disziplinen wie Pädagogik, Psychologie, Linguistik etc. um verhaltensbiologische Erklärungsmuster erweitert. Der Erfolg der Neurowissenschaften zeigt sich auch in diversen populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen, die über Beziehungsprobleme, Geschlechtsidentität, Lernschwierigkeiten bis hin zu Religiösität, Konsumverhalten und Kriminalität gesellschaftliche Phänomene über die neuronale Gehirnstruktur begründen wollen. Neurobiologische Erklärungsmodelle haben offenbar auch für ein Laienpublikum eine große Attraktivität. Dieser Vortrag will die Widersprüche im Bild des ‚homo neurobiologicus‘ aufzeigen und zugleich untersuchen, worin dessen hohe Attraktivität besteht. Dabei verfolgt er die These, dass moderner Subjekte durch gesellschaftliche Entfremdungsprozesse tatsächlich derart in ihrer Subjektivität, in ihren Entscheidungen und Willensäußerungen formiert sind, als ob ein heteronomer Naturprozess sie bestimmte.
Zur Person
Dr. Christine Zunke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zu ihren Veröffentlichungen zählt das Buch „Kritik der Hirnforschung: Neurophysiologie und Willensfreiheit“.
Veranstaltungsort ist der BIS-Saal der Uni Oldenburg. Zusätzlich gibt es einen Youtube-Livestream.
Diese Veranstaltung findet im Rahmen der Ringvorlesung zur kritischen Theorie im Wintersemester 2022/23 statt: