Einige Jahre lang habe ich mir vorgenommen, endlich italienisch zu lernen. Die Sprache erschien mir relativ zugänglich, sie hat einen schönen Klang und ich könnte dann endlich beurteilen, ob die Drohungen in Mafiafilmen auch richtig untertitelt sind. Wie viele andere, die es sich vornehmen, habe ich es aber nie durchgezogen, weil ich es nie schaffte, die Regelmäßigkeit einzurichten, die für das Lernen einer Sprache nötig ist. Das änderte sich erst, als ich anfing, Sprachlern-Apps zu nutzen. Die Lektionen hätte ich so auch schon längst, oft sogar besser, in gängigen Lehrbüchern erarbeiten können. Aber weil ich jetzt anstatt Lektionen Level durchlaufe, für die ich Punkte bekomme, die ich dann in neue digitale Kleidung investieren kann, für die Eule, die mein Lernen begleitet, lerne ich tatsächlich jeden Tag italienisch. Diese Dynamik kann man unter dem Begriff der „Gamefizierung“ bringen. Unter diesem etwas holprigen Anglizismus kann man ganz allgemein verstehen, dass man aus einer Sache ein Spiel macht, die eigentlich kein Spiel ist. Anstatt einfach ‚nur‘ eine Sprache zu lernen, wird der Lernprozess als ein Spiel gestaltet.
In die Unilehre hält die Gamefizierung langsam aber sicher Einzug, indem zum Beispiel im Stile einer Quizshow kurze Fragen in Vorlesungen eingebaut werden, die man mit Abstimmungen beeinflussen kann. Eine andere Möglichkeit sind Ranglisten, die schon optisch den Darstellungen bei Onlinespielen ähneln. Auf dem Sammeln von Punkten und Quizelementen basiert letztlich auch ein großer Teil der Moocs, der kostenlosen „Massive Open Online Courses“, also den verbreiteten Onlinelehrplattformen.
Dass ich jetzt tatsächlich italienisch lerne, basiert außerdem auf einem seit einigen Jahren sehr populären psychologischen Phänomen, dem Nudge. Was alle außerhalb der Volkswirtschaften wissen, nämlich, dass Menschen nicht vollständig rationale Akteure sind, wird im Nudge angewandt. Es sind kleine ‚Stupser‘ (‚Nudges‘), die mein Verhalten in eine gewünschte Richtung lenken. Wenn man in der Kneipe pinkeln geht und dort auf eine aufgedruckte Fliege oder ein Plastikfußballtor zielt, und damit verhindert wird, dass Menschen (in diesem Fall Männer oder Urinellanutzer_innen) woanders als in die sauberste Richtung zielen, dann ist das ein Nudge. Und wohl auch eine Gamefizierung des Urinierens.
Die Durchdringung dieser Elemente im Alltag geht also schleichend, aber unaufhörlich voran. Die Lernapps versprechen mit ihren einfachem Punktesammeln und schnellen, farblich untermalten Erfolgen ein sehr einfaches Belohnungssystem. Es ist ein konstantes Schulterklopfen, die warme Stimme, die sich zu uns herunterbeugt und sagt: „das hast du gut gemacht!“. Und die Nutzer_innen werden dabei genauso infantilisiert wie es gerade anklang. Den „digitalen Schnuller“, nennt der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han ähnliche Prinzipien in den sozialen Netzwerken (also auch ein Like, ein neuer Follower) – der englische Begriff für Schnuller, Pacifier, drückt das Prinzip dahinter noch besser aus. Es beruhigt.
Natürlich ist es super, dass man die lang geplante Fremdsprache endlich einmal lernt. Gleichzeitig muss man einen Schritt zurück treten, auf sich selbst gucken, wie man da mit seinem Handy agiert und sich fragen, was da eigentlich gerade passiert. Längst hat das Prinzip nämlich schon in ganz andere Bereiche Einzug gehalten. Wenn jemand eine militärische Drohne steuert, dann ähnelt es ganz konkret der Erfahrung der Videospiele, mit denen man sozialisiert wurde, und wenn dann jemand über Funk etwas sagt wie „Fire in the hole“ und sich ausdrücklich einer Gamersprache bedient, dann gilt es zu intervenieren. Es ist schließlich so: was im Stile der Gameifizierung in der Schule oder der Universität eingeübt wird, von dem lernen wir, dass es ‚normal‘ ist und wir hinterfragen es später wahrscheinlich auch nicht mehr am Arbeitsplatz.
Gerade in Unternehmen hat sich schon längst herausgestellt, dass die Gamefizierung zur Steigerung von Effizienz perfekt geeignet ist. Man kann in manchen Unternehmen für besonders viele hergestellte Einheiten oder bearbeitete Fälle Punkte bekommen, die durch Messenger oder ganz analog durch Bestenlisten kommuniziert werden.
Mit gutem Beispiel voran geht auch der Chef, und deswegen ist die Gamifizierung auch nicht einfach ein Mittel der Kontrolle, das von denen „denen da oben“ auf den einfachen Arbeitnehmer angewandt wird. Gerade andersrum: es ist ein Prinzip, das sich durchsetzt, weil jedes Unternehmen, das es anwendet, langfristiger erfolgreicher ist als diejenigen, die es nicht machen. Um jeden Angestellten so viel Arbeit abzutrotzen wie möglich, gibt es zwei Strategien: einmal kann man die Arbeitszeit verlängern, indem man zum Beispiel zusätzliche Stunden verlangt, Urlaub kürzt oder auch den Renteneintritt nach hinten verlegt. Die Gamifizierung zielt aber auf die andere Möglichkeit, nämlich die Arbeitnehmer_innen dazu zu bringen, in der Zeit in der sie da sind so aktiv und effizient wie möglich zu arbeiten. Es ist damit ein neuer Versuch, für ein altes Problem eine Lösung zu finden, nämlich für das so genannte „Prinzipal-Agenten-Problem“, dessen Anwendung auf den Arbeitsbereich besagt, dass der Arbeitgeber (Prinzipal) nie genau wissen kann, ob der Arbeitnehmer (Agent) auch wirklich so gut arbeitet wie es diesem möglich wäre. Die Gamifizierung ermöglicht einem genau das doch herauszufinden. Es ist aber nicht mehr nur für die Arbeitszeit vor Ort relevant, sondern, und das ist eine eher neue Entwicklung, auch für die Zeit außerhalb dieser. Was beim chinesischen Shèhuì xìnyòng tǐxì, dem viel debattierten Social Scoring, bei dem ab 2020 Verhaltensweisen von Menschen sich auf einen persönlichen sozialen Kredit auswirken, der über Zugänge zu Bildung und Arbeitsplätzen, die Höhe der Steuern bis zur Reisefreiheit entscheidet, sehr kritisch diskutiert wird, ist nur die autoritäre Version einer ähnlichen Dynamik. Im Westen wird es eher als ‚Angebot‘ formuliert: wenn du eine Fitness-App benutzt, dann bietet die Krankenkasse dir Vorteile an. Es heißt nicht, wie in China: wenn du dieses und jenes machst, dann wirst du direkt bestraft, sondern es heißt: mache doch dies und jenes, und wenn du es machst, dann hier, nimm diesen Bonus. Die Exergames, also Exercise Games, wie etwa Zombies, Run!, lassen einen zum Beispiel so effektiv trainieren, wie es möglich ist, und werden gleichzeitig von Gesundheitsorganisationen unterstützt.
Die psychische Auswirkung dieser reinen „Möglichkeit“, anstatt der sicheren Strafe wie in China, ist dabei nur auf den ersten Blick freundlicher. Indem ich die Sachen nicht wie ein Gebot betrachte, sondern wie ein persönliches Ziel, schwindet mein Widerstand dagegen. Es ist mein Spiel, ich will es gewinnen.
Die ernste Überwachung durch andere weicht der spielerischen Selbstüberwachung. „Wenn du nicht rechtzeitig an der Stechuhr bist, dann wird das bedrohliche Konsequenzen haben“ heißt heute „Jetzt die Challenge: wer schafft es, den längsten Streak aufrecht zu erhalten? Die Belohnung ist eine Krone für den digitalen Avatar.“
Was sich unter dem Banner der Gamifizierung durchsetzt ist eine ganz bestimmte Art von Spiel. Mit dem freien Spiel, in das sich etwa kleine Kinder verlieren, und das sich zur ‚ernsten‘ Welt widerständig verhält, auch weil das Spiel gar nicht sinnvoll sein muss, hat das gamifizierte wenig gemeinsam. Andererseits knüpfen sie gerade an deren Eigenschaften an: wie das Kind die Zeit im Spiel kaum wahrnimmt, so entsteht bei der Gamifizierung die Illusion, dass man gerade nicht schon lange arbeitet oder lernt. Und eine Illusion einer Freiheit des gamifizierten Alltags ist es außerdem.
Eine interessante Reflektion auf diese Illusion konnte man sich kurz vor Weihnachten im Netflix-Film „Bandersnatch“ ansehen. Die Zuschauer_innen können während des interaktiven Films Entscheidungen treffen, aber sie werden immer darauf zurückgeworfen, dass ihre Entscheidungen so frei nun auch wieder nicht sind. Man sollte also nicht zur Reiz-Reaktions-Maschine werden und es für etwas „Spielerisches“, also etwas nicht Ernstes halten, wenn man auch an der Uni mit immer mehr Spielen konfrontiert wird. Manches Spiel lehnt man vielleicht besser ab. Oder wie man auf Italienisch sagt, wie ich jetzt weiß: Il gioco non vale la candela.
von Justus Mercur