Ansichten zu Fußball und Antisemitismus

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Ein Interview mit Alex Feuerherdt

Im Rahmen der Qualifizierungsreihe „Wi(e)der das Gerücht“ zu pädagogischen Konzepten gegen Antisemitismus, die im Sommersemester auch mit Unterstützung des AStA an der Uni Oldenburg umgesetzt wurde, hatten wir die Gelegenheit, mit Alex Feuerherdt ein Interview zu führen. Es ging um seine beiden großen Arbeitsbereiche, Fußball und Antisemitismusaufklärung – und wie beides zusammenhängt. 

Du hast 2006 den Blog ‚Lizas Welt‘ gegründet und ihn untertitelt mit „Ansichten zu Politik und Fußball“. Der Bereich zur Politik hat dann doch schnell überwogen, war das so gedacht oder hat es sich ergeben?

Als ich den Blog 2006 gegründet habe, ging es mir um die Verbindung beider Themen. Aber es war schon intendiert, den Fokus auf den politischen Beriech zu legen. Das Thema Fußball sollte dann, wenn es sich ergibt, eine Rolle spielen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ich über die Geschichte israelischer Fußballclubs schreibe. Oder über Antisemitismus im Fußball.

Wie schätzt du die aktuelle Entwicklung ein? Es gibt ja einerseits von offizieller Seite viele Bestrebungen, gegen Rassismus und Antisemitismus vorzugehen, andererseits stellt sich die Frage, ob es bei den Clubs überhaupt einen adäquaten Begriff von Antisemitismus gibt, der ja die Bedingung dafür wäre, etwas zu tun. 

Wenn man es mit den 90er Jahren vergleicht, gibt es in der ersten und zweiten Bundesliga schon eine positive Entwicklung. Man hört heute in den Stadien kaum noch Rufe gegen Juden oder ähnliche Formen von unmittelbarem Antisemitismus. Aber das gilt nur für den „großen“ Fußball. Ab der dritten und vor allem der vierten Liga abwärts – und muss man sagen: vor allem in Ostdeutschland – ist eine Entwicklung zu beobachten, die ziemlich verheerend ist. Da hat es eine ganze Reihe von antisemitischen Vorfällen gegeben, in diesem Bereich sehe ich keine Verbesserung, sondern habe stark den Eindruck, dass Entwicklungen, die früher in den Stadien der ersten und zweiten Bundesliga zu Hause gewesen sind, sich in den Amateurbereich verlagert beziehungsweise fortgesetzt haben. „Juden Jena“-Rufe, Plakate mit Anne Frank im Trikot von Chemie Leipzig, solche Dinge. Antisemitische Ressentiments gibt es aber auch noch auf einer anderen Ebene, etwa in der Diskussion über die Kommerzialisierung im Fußball und vor allem über RB Leipzig. Da ist beispielsweise die Rede vom „Kunstprodukt“ und vom „künstlichen Gebilde“, von der „Kulissenschieberei“ und der „Geldmacherei“. Das sind Begrifflichkeiten, die auch im Arsenal des Antisemitismus ein Zuhause haben. In dieser Diskussion tritt der Antisemitismus zwar nicht offen zutage, aber eben in struktureller Hinsicht. Wenn zum Beispiel der Mannschaftsbus der Leipziger mit Geldscheinen beworfen wird, auf denen Dietrich Mateschitz [der Gründer von Red Bull, Anm. d. Redaktion] zu sehen ist, der mit einer Hakennase dargestellt wird, und auf denen steht: „In Capitalism he trusts“, dann gehen das antikapitalistische, das antiamerikanische und das antisemitische Klischee Hand in Hand. Und wenn Spruchbänder gezeigt werden, auf denen „Gegen die Bullenseuche“ oder „Rattenball Leipzig“ steht, dann zeigt sich daran die Entmenschlichung des Gegners, wie man sie aus dem klassischen Antisemitismus kennt, wenn Juden zu Ungeziefer herabgewürdigt werden. Unter anderem das meine ich mit „struktureller Antisemitismus“.

Du wirst ja auch regelmäßig von Gruppen aus der aktiven Fanszene und Ultragruppierungen für Veranstaltungen und Workshops eingeladen. Das spricht ja für ein gewisses Bedürfnis dort, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Die Ultragruppierungen, von denen ich bislang zu Diskussionsveranstaltungen eingeladen worden bin, gehören zu denen, die sich mit dieser Thematik sehr reflektiert auseinandersetzen. Dazu gehören beispielsweise die „Ultras Braunschweig“ und „Caillera Bremen“, zwei Gruppierungen, die sich schon lange mit dem Thema Antisemitismus im Fußball beschäftigen und dabei auch den regressiven Antikapitalismus auf dem Schirm haben. Ich hab auch schon in Leipzig vorgetragen, da waren die Fans von RB Leipzig, wenig überraschend, durchaus einverstanden. Vertreter von den anderen Stadtclubs haben das eher kritisch gesehen. Daraus ist eine kontroverse Debatte entstanden, die sich am Ende aber auch als sehr produktiv erwiesen hat. Diejenigen, die mich einladen, gehören in der Regel zu denjenigen, die schon ein kritisches Bewusstsein zum Antisemitismus im Fußball entwickelt haben. Ihnen ist auch klar, was an der spezifischen Ablehnung von RB Leipzig problematisch ist. Das ist aber nicht repräsentativ für die Fanszene insgesamt, das muss man klar sagen. 

Seit einigen Jahren betreibst du den Podcast „Collinas Erben“, der als Schiedsrichterpodcast nochmal einen anderen Fokus hat. Ist die Idee dazu aus deiner Arbeit an ‚Lizas Welt‘ entstanden?

Nein, da gibt es erstmal keinen direkten Bezug. Ein Freund von mir, Klaas Reese, hatte im Herbst 2012 die Idee und fragte mich: „Wie wäre es, wenn wir einen Schiedsrichterpodcast machen?“ Ich habe aus meiner langjährigen Erfahrung in der Schiedsrichteraus- und -fortbildung in Köln gesagt, dass das Erklären von Fußballregeln normalerweise über Visualisierungen funktioniert. Aber es lief von Beginn an auch als Audioformat gut. Der Podcast ist von der internetaffinen Fußballszene sofort angenommen worden, auch deshalb, weil wir bald auch anhand von konkreten Schiedsrichterentscheidungen die Regeln erklärt haben. Die Hörerzahlen waren recht schnell in einem fünfstelligen Bereich. Das hat vermutlich viel damit zu tun, dass der DFB mit eigenen Erklärungen zum Thema Schiedsrichterentscheidungen eher zurückhaltend ist. Dadurch haben wir offenbar eine Lücke gefüllt, ohne dass uns das vorher bewusst war.

Es war für euch vermutlich auch ein Glücksfall, dass er gerade in den letzten Jahren einige große Regeländerungen gab. Von immer neuen Handspielregeln bis vor allem zur Einführung des Videoschiedsrichters und die diese begleitende Debatte, die auch von einer gewissen Unsicherheit gekennzeichnet ist und ein Format wie eures notwendig macht.

Einerseits hat es sicherlich eine Rolle gespielt, dass es da jetzt Leute gibt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, ausführlich die Fußballregeln und Schiedsrichterentscheidungen zu erklären, und an die man sich mit Fragen wenden kann. Zum anderen ist es in der Tat so, dass es viele Regeländerungen gegeben hat. Die Leute sind dankbar, wenn man sie ihnen erklärt. Das betrifft vor allem die gravierendste Veränderung, die Einführung des Videoassistenten. Da hat es einen großen Klärungsbedarf gegeben. 

Es stellt sich die Frage, ob es einen Bezug dieser beiden Bereiche gibt – Fußballregeln, Schiedsrichter und Antisemitismus. Samuel Salzborn machte zuletzt die Notwendigkeit einer Prävention von Antisemitismus stark. Dies kann ihm zufolge durch die Ausbildung von abstraktem Denkvermögen gehen. Ein Beispiel bei ihm ist gerade die Einübung abstrakter Regelhaftigkeit im Sport. Man könnte ja sagen, dass du etwas Ähnliches mit deinem Podcast auszubilden versuchst.

Es würde meine eigene Rolle überschätzen zu sagen, dass Leute, denen ich die Fußballregeln beibringe, stärker vor Antisemitismus gefeit sind oder es besser vermögen, ihn in Frage zu stellen. Da kann ich die Wirkung auch gar nicht selbst beurteilen. Ich würde Samuel aber zustimmen, dass es diese Wirkung grundsätzlich gibt. Die Vorwürfe und Anschuldigungen, die oft kommen, die Verve, mit denen diese geäußert werden, eine deutliche Neigung zu groben Vereinfachungen, zu Populismus, zu Schwarz-Weiß-Denken, zu Freund-Feind-Schemata, zu Verschwörungstheorien und zum Suchen eines Sündenbocks ist da weit verbreitet. Das erinnert mich tatsächlich manches Mal an die Struktur und Wirkungsweise des Antisemitismus. Man sollte aber die Kirche im Dorf lassen, es geht schließlich nur um Fußball. Gleichzeitig muss ich aber auch sagen: Diejenigen aus der antisemitismuskritischen Szene, die sich mit Fußball beschäftigen, die erlebe ich zum Großteil auch in Bezug auf den Fußball und besonders auf das Schiedsrichterwesen als ausgesprochen reflektiert. Wenn es in diese Richtung funktioniert, dann in die andere Richtung ja vielleicht auch. 

Fußball ist dahingehend offenbar ein ambivalentes Phänomen. Samuel Salzborn kritisiert neben dem ‚konkreten Denken‘, im Gegensatz zum abstrakten, auch das ‚abstrakte Fühlen‘, und damit meint er die Identifikation mit einer abstrakten Wir-Gruppe. Gerade auf dieser Identifikation basiert ja aber das Fußballfantum.

Definitiv. Die Struktur „wir gegen die“, ein ausgeprägtes Schwarz-weiß-Denken, das spielt da sicher eine Rolle. Und der Schiedsrichter ist der Spielverderber in diesem Schema und wird damit zum passenden Feindbild, zumal ihm oft unterstellt wird, seine Entscheidungen auf Betrug zu gründen. 

Du machst auch regelmäßig Workshops an Schulen, vor allem zum israelbezogenen Antisemitismus. Wie schätzt du die diesbezügliche Situation im Schulunterricht aktuell ein?

Die Workshops verlaufen unterschiedlich. Meistens teilt das Lehrpersonal, das mich eingeladen hat, meine Einschätzung, dass der israelbezogene Antisemitismus derzeit die akuteste Spielart des Hasses gegen Jüdinnen und Juden ist. Ich habe aber auch schon eine vordergründig äquidistante Haltung erlebt, also Lehrerinnen und Lehrer, die gesagt haben: Wir beziehen im „Nahostkonflikt“ keine Stellung, alle Seiten haben irgendwie Recht, man wird doch wohl noch Israel kritisieren dürfen. Bei einem Workshop im Bergischen Land war ich mal mit 20 Schülerinnen und Schülern konfrontiert, die kurz vor der Veranstaltung mit mir einen extrem auf Emotionen setzenden palästinensischen Propagandafilm gezeigt bekommen hatten, in dem die Israelis als brutale Besatzer dargestellt wurden. Es war nicht so einfach, den ganzen Unsinn, der in diesem Film vorkam, geradezurücken. In einem anderen Workshop sollte ich 25 Schülerinnen und Schüler auf eine Israelreise vorbereiten. Die haben total positiv auf den Workshop reagiert. Als sie aus Israel zurück waren, hat mir ein Lehrer erzählt, dass es vor Ort zu großen Problemen gekommen ist. Teil des Programms war eine Begegnung mit einem – angeblich ehemaligen – Hamas-„Aktivisten“. Den Lehrern war es plötzlich wichtig, den Schülern auch die „andere Seite“ zu vermitteln. Dann ist es wohl dort ziemlich eskaliert, weil die Schülerinnen und Schüler, ausgehend vom Workshop zu Hause, die Gegenargumente schon kannten und den Mann von der Hamas damit konfrontierten. Die deutschen Lehrerinnen, die auf meinen Workshop eigentlich positiv reagiert haben, haben mich dann dafür verantwortlich gemacht, dass es auf der Reise zum Eklat gekommen ist. Aber die meisten Erfahrungen an Schulen waren positiv. 

Wenn man sich den Fall, den du geschildert hast, verdeutlicht, scheint es ja ein Problem zu sein, dass Schulen bei jedem Thema stets die verschiedenen Positionen gleichrangig zu behandeln haben, wie es auch im ‚Beutelsbacher Konsens‘ angelegt ist.

Den Eindruck hatte ich teilweise auch. Die Welt besteht dann nur noch aus Narrativen, die alle gleichberechtigt und gleichwertig sein und nebeneinander stehen sollen. Nach dem Motto: „Es gibt eben verschiedene Wahrheiten, die einen sagen so, die anderen so, wie soll man sich da entscheiden?“ Das ist dann wirklich ein Problem. Eine Schule, in der ich war, hat zum Beispiel die Shoa mit der „Nakba“ parallelisiert. Die einen hätten Leid erfahren, die anderen auch, hieß es. So stand beides unvermittelt nebeneinander, das war ziemlich gruselig. Da muss man dann im Workshop sehr deutlich machen, worin die Unterschiede bestehen, und auch klar machen, dass es eine Form von Holocaustrelativierung ist, wenn man das gleichsetzt. 

Es begegnen einem oft auch naive Vorstellungen von Gerechtigkeit, wie zum Beispiel, dass es ungerecht ist, wie stark Israel militärisch ist. 

Diese Diskussion kommt eigentlich immer, nicht nur bei Schülerinnen und Schülern. Es wird dann Partei ergriffen für die Seite, die vermeintlich schwächer ist. Wenn man dann den historischen Kontext aufzeigt, wird klar, dass der Grund, warum die Palästinenser noch immer keinen Staat haben und weshalb sie leiden, eben nicht in erster Linie bei Israel zu suchen ist. Sie hätten schon 1948 einen eigenen Staat haben können, wie es der UN-Teilungsbeschluss vorsah, aber die arabischen Länder haben es bekanntlich vorgezogen, Israel nur einen Tag nach seiner Gründung anzugreifen – mit dem Ziel, es von der Landkarte zu radieren. Bis heute erkennen die Palästinenser den jüdischen Staat nicht an. Nicht, weil sie zu wenig Land versprochen bekommen haben oder wegen einer konkreten israelischen Politik, sondern weil es dort ein massives Problem mit Antisemitismus gibt. Wer hier Partei ergreift, muss vom Bild „David gegen Goliath“ abrücken. 

Das scheint auch die Entscheidungsgrundlage vieler aktueller Entscheidungen der UN zu sein, wie du in deinem aktuellen Buch, „Vereinte Nationen gegen Israel“ zeigst. Muss man attestieren, dass die Mehrheitsverhältnisse sich hier mittlerweile so darstellen, dass die Entscheidung einer Mehrheit der Staaten auf antisemitischen Ressentiments beruht?

Wir kommen in unserem Buch am Ende zu der Schlussfolgerung, dass die UN die größte antizionistische Organisation der Welt ist. Das ist natürlich ein markiger Satz, aber dem gehen auch dreihundert Seiten Analyse voraus. Die Vereinten Nationen haben sich im Laufe der Zeit geändert. Am Anfang gab es deutlich weniger Mitglieder, die zumeist bürgerliche Demokratien waren, mit einer rationalen Entscheidungsgrundlage. So etwas wie der Teilungsbeschluss von 1947 wäre heute nicht mehr denkbar. Die Mehrheitsverhältnisse haben sich komplett geändert. Sie sind in fast allen UN-Gremien, außer dem Sicherheitsrat, so, dass es eine quasi-automatische Mehrheit gegen Israel gibt. Und das, wie man leider sagen muss, häufig mit Zustimmung aus Europa und aus Deutschland. Wenn die nicht zustimmen würden, gäbe es immer noch eine antiisraelische Mehrheit, aber eine deutlich geringere Legitimation, als wenn diese Staaten auch noch mitmachen beim Israel-Bashing. Die Resolutionen gegen Israel sind zu einer regelrechten Verurteilungsorgie geworden.

Eine ‚Orgie‘, weil es so viele Beschlüsse gibt?

Wenn die UN-Generalversammlung tagt und 26 Resolutionen verabschiedet, die sich jeweils gegen ein einzelnes Land richten, und davon 21-mal gegen Israel entschieden wird – so war es 2018 –, dann ist das vollkommen irre. Gibt es wirklich nichts Schlimmeres auf dieser Welt? Was ist in Syrien los, was ist im Iran los, was ist in Nordkorea los? Es ist einfach absurd, was da passiert. Wenn man die Definition der IHRA [der ‚International Holocaust Remembrance Association‘, Anm. d. Redaktion] zugrundelegt, muss man sagen: Das ist eine Dämonisierung, das ist eine Delegitimierung, das sind klare doppelte Standards, die da angelegt werden. Das erfüllt also alle Kriterien des modernen, israelbezogenen Antisemitismus – mit den Weihen der UN. Damit sind die Vereinten Nationen ein großer Teil des Problems und verkehren sich so in das Gegenteil dessen, wofür sie einmal angetreten waren. 

Es ist vermutlich eine schwer zu beantwortende Frage, aber wenn man nun sagt, dass die Uno dennoch eine gute Idee ist, was müsste man dann tun, um sie zu verändern?

Es gibt viele Dinge, die sofort machbar wären. Beispielweise bei diesen vielen idiotischen antiisraelischen Beschlüssen als europäischer Staat einfach nicht mitzustimmen. Kürzlich hat Deutschland das erste Mal in der Weltgesundheitsorganisation mit Nein gestimmt, als es darum ging, Israel als weltweit einziges Land dafür zu verurteilen, dass es die Gesundheit und die körperliche Unversehrtheit von Menschen gefährdet. Ein solches Nein sollte man zwar verlangen können, aber in der Vergangenheit war die Zustimmung zu dieser Resolution stets groß, auch vonseiten europäischer Staaten. Man könnte – und sollte! – auch in der Generalversammlung und zudem im Menschenrechtsrat einfach mit Nein stimmen und damit diesen Gremien ein Stück weit die Legitimation entziehen. Was man tun könnte, ist außerdem, das Palästinenserhilfswerk UNRWA abzuschaffen. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum die Palästinenser ein eigenes Flüchtlingshilfswerk haben sollten, das die Illusion nährt, die einzige Lösung des palästinensischen „Flüchtlingsproblems“ sei die „Rückkehr“ auf israelisches Territorium. Damit würde die Demografie in Israel so verändert, dass die Juden zur Minderheit würden. Es ist völlig klar, dass keine israelische Regierung – egal, ob links oder rechts – diesem Irrsinn zustimmen kann und wird.

Du würdest die palästinensischen Flüchtlinge dann dem allgemeinen Flüchtlingshilfswerk zuordnen?

Genau. Es gibt ja den UNHCR, das ist das größere Flüchtlingshilfswerk, das für alle anderen Geflüchteten auf dieser Welt zuständig ist. Von den arabisch-palästinensischen Flüchtlingen aus den Kriegsjahren 1948/49 leben heute noch etwa 30.000 bis 50.000. Sie könnte man ohne Weiteres der UNHCR überantworten. Die UNRWA hat heute rund 30.000 Mitarbeiter, fast alle sind Palästinenser – und der größte Teil von ihnen hält es mit der Hamas. Entsprechend sehen beispielsweise die Lehr- und Lerninhalte in den Schulen aus: Die Kinder werden antisemitisch verhetzt, auf den Landkarten gibt es kein Israel, Juden hätten nur „gierige Ambitionen“, heißt es in den Schulbüchern. Diese Einrichtung ist kein Hilfswerk für Flüchtlinge, sondern eines der größten Friedenshindernisse im Nahen Osten und eine Einrichtung, in der die Zerstörung des jüdischen Staates gepredigt wird. Weg damit! 

Du hast die neuste Entwicklung bei der WHO-Abstimmung angesprochen. Wie schätzt du das ein? Als dauerhaften ‚policy change‘ oder Strohfeuer?

Ob das einen Kurswechsel eingeläutet hat, muss man abwarten. Seitens anderer Länder hatte sich schon vorher etwas getan: Die USA sind aus dem Menschenrechtsrat ausgestiegen, die Engländer, selbst die Österreicher haben gesagt, dass sie bei den antiisraelischen Beschlüssen dort nicht mehr mitstimmen. Jetzt kam Deutschland in der WHO dazu. Vielleicht ist man es allmählich ja doch leid, bei den antiisraelischen Beschlüssen mitzustimmen, vielleicht kippt die Stimmung in die richtige Richtung. Aber das glaube ich erst, wenn es dauerhaft passiert und nicht bei dem einen Mal bleibt.

Für eine gewisse Änderung spräche vielleicht der Bundestagsbeschluss gegen die „Boykott, Divestment & Sanctions“-Bewegung (BDS). 

Das interessanteste am BDS-Beschluss ist das, was gar nicht so offensichtlich ist. Die Konsequenzen in Deutschland sind überschaubar, weil die BDS-Bewegung in Deutschland relativ klein und schwach ist, verglichen mit England und den USA. Spannender sind die möglichen Auswirkungen im Nahen Osten. Denn wenn konsequent umgesetzt wird, dass keine BDS- oder BDS-nahen Organisationen unterstützt werden dürfen, und auch alle dazu aufgefordert werden, keine finanzielle Förderung mehr zu leisten, dann muss sich fragen: Was ist eigentlich mit den deutschen Parteistiftungen in den palästinensischen Gebieten, die dort Projekte und NGOs unterstützen, die exakt diesem Kriterium entsprechen, die also BDS-nah sind oder BDS mittragen, die teilweise sogar die BDS-Bewegung mitbegründet haben, die sich deutscher Gelder erfreuen, und zwar schon seit vielen Jahren? Was ist mit den kirchlichen deutschen Einrichtungen dort oder mit humanitären Organisationen, die mit BDS-NGOs zusammenarbeiten? Es hat in den palästinensischen Gebieten nach dem Bundestagsbeschluss Demonstrationen vor deutschen Vertretungen gegeben, und es hat zwei wütende palästinensische Stellungnahmen gegeben, in denen es sinngemäß hieß: Was habt ihr da verabschiedet? BDS ist gewaltfreier Widerstand! Das kann man mit Antisemitismus nicht vermischen. Und es hat Proteste von deutschen Organisationen gegeben, die vor Ort tätig sind und denen der Allerwerteste gerade ein bisschen auf Grundeis geht. Da merken jetzt schon einige, dass es eng werden könnte. Hat der Beschluss also außenpolitische Konsequenzen? Die sollte und müsste er haben, wenn diejenigen, die ihm zugestimmt haben, ihn ernst nehmen. Aber ich fürchte eher, so weit wird es nicht kommen.

Es gab auch ein Schreiben von einer Reihe von Universitätsprofessor_innen.

Richtig, deswegen bin ich gespannt, was das für Auswirkungen hat. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Ich halte den Beschluss für eine politisch völlig richtige Entscheidung, man muss dann aber auch darauf hinwirken, dass diese Kooperationen tatsächlich beendet werden. Der Abgeordnete Frank Müller-Rosentritt, der den Antrag maßgeblich initiiert hat, war verwundert über die Kritik am Beschluss und hat betont, dass man doch nicht so tun müsse, als sei BDS in den palästinensischen Gebieten alternativlos. Selbst wenn es dort kaum zivilgesellschaftliche Organisationen gibt, die ihren Namen verdienen, kann es nicht sein, dass man so tut, als gäbe es überhaupt keinen Ausweg , als wäre man dazu gezwungen, mit BDS-Organisationen zu kooperieren. Wenn man Fortschritte erzielen will, dann muss man einfach sagen: Die gibt es mit BDS-Gruppierungen nicht, nirgendwo. Die Kooperation mit Antisemiten kann und darf nie eine Option sein. 

In Oldenburg gab es auch einen Beschluss zu BDS, der aber deutlich weichgespülter ausfiel als im Bundestag, der nicht die BDS-Bewegung als solche verurteilt, sondern sich nur gegen Veranstaltungen richtet, wenn sie konkret antisemitisch sind. 

Da muss man schon Klartext reden: Die BDS-Bewegung zieht Antisemiten an, weil sie selbst antisemitisch ist. Punkt. Die Kernforderungen der BDS sind hier eindeutig. Ob das die Forderung nach dem sogenannten Rückkehrrecht für die Palästinenser ist, bei der vollkommen klar ist, dass die demografischen Verhältnisse in Israel so verändert werden sollen, dass die Juden in der Minderheit sind. Oder ob es die Forderung ist, die Besetzung und Kolonisation „allen arabischen Landes“ zu beenden – wobei bewusst offengelassen wird, was damit gemeint ist: nur das Westjordanland? Oder vielleicht doch ganz Israel? Da muss man klare Kante zeigen, so, wie es erfreulicherweise im Bundestagsbeschluss auch artikuliert wurde. Dahinter sollte man nicht zurückfallen.

Die BDS in Oldenburg ist international bekannt geworden durch den Aktivisten Christoph Glanz, der gleichzeitig auch Lehrer an der IGS Flötenteich ist. Eine Forderung, ihn nicht mehr als Lehrer einzusetzen, wurde durch das Niedersächsische Kultusministerium abgewiesen. 

Das ist ein merkwürdiger Beschluss. Wenn man die Betätigungsfelder dieser Person sieht und die Art und Weise, wie er da Agitation und Propaganda betreibt, dann liegen die Konsequenzen eigentlich auf der Hand. Das ist wirklich eine gefährliche Geschichte: Man hat es mit Heranwachsenden zu tun, mit Menschen, die einer gewissen Anleitung bedürfen und für die Lehrerinnen und Lehrer eine spezifische Funktion haben. Jemandem wie Glanz darf man es nicht überlassen, Kinder auf diesem Feld zu erziehen. Das halte ich für einen groben Fehler, dafür habe ich kein Verständnis. 

von Ulrich Mathias Gerr

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